Friedensforscher zu Krieg, Bundeswehr und christlichem Anspruch

Hochrüstung wie nie – was gilt die Bergpredigt noch, Professor Koch?

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Nie zuvor wurde so viel für Rüstung ausgegeben wie 2023, sagt dieser Tage das Forschungsinstitut Sipri. Ein deutscher General urteilt, Friede sei schon lange nicht mehr. Wie naiv ist da der biblische Wert Gewaltlosigkeit? Kirche+Leben fragt den Friedensforscher und Theologen Bernhard Koch.

„Liebt eure Feinde“, sagt Jesus in der Bergpredigt (Mt 5), und: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ Wie naiv ist das angesichts von Gewalt, Krieg und Bedrohung in der Welt?

Das ist die klassische Frage: Geht es um eine Handlungsanweisung oder eine Haltung? Den Konflikt hat die Theologie bis heute nicht aufgelöst. Ich sehe darin zunächst einen Anspruch, der vorrangig unsere Haltung prägen soll. Manchmal sind wir tatsächlich auch aufgefordert, uns der Gewalt zu beugen. Wir können das, weil wir als Christen wissen, dass Gewalt nicht das letzte Wort hat. Wir sind nicht allein dafür zuständig, diese Welt zur bestmöglichen zu machen und jedes Unrecht zu ahnden. Wir können hinnehmen, dass Gewalt vordergründig siegt – auch wenn das sehr schwerfällt.

Die Arbeit für Frieden und Versöhnung ist aber direkter Auftrag Jesu. Können wir das leisten, während Russlands Präsident Wladimir Putin einen Angriffskrieg auf ein Nachbarland unseres westlichen Verteidigungsbündnisses Nato führt?

Wir haben den Auftrag, es zu versuchen. Wir müssen es nicht zum Erfolg führen, weil das letztlich nicht in unserer Hand liegt. Aber es darf nicht zu einer solchen Feindschaft kommen, dass keine Brücken mehr möglich sind – auch wenn das derzeit fast aussichtslos scheint. Auch in Russland bekennen sich Menschen als Christen, die unter demselben Anspruch stehen wie wir.

Müssen auch Katholiken im Zweifel zur Waffe greifen, um Mitbürgerinnen und Mitbürger oder angegriffene Staaten zu verteidigen?

Eine „Pflicht“ zur Gewalt sehe ich nicht. Die Frage ist: Sind wir zur Gewalt berechtigt, und wo liegt die Grenze? Wenn „geringe“ Gewalt ausreicht, um einen Angriff auf das Leben eines Mitmenschen zu verhindern, dann ist der Rechtfertigungsdruck hoch, es nicht zu tun. Schwieriger wird es, wenn die Abwehr unbeteiligte Dritte in Mitleidenschaft zieht, zum Beispiel bei Aktionen gegen einen kriegerischen Aggressor. Da sind schwierige Abwägungen zu treffen, Antworten „a priori“ gibt es nicht.

Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden, sagt Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Was sagen Sie?

Ich hätte die Vokabel nicht gewählt. „Verteidigungsfähig“ hätte gereicht, weil das in der Sache gemeint ist. Grundsätzlich ist die Einschätzung richtig. Es ist aber zu klären, was „Deutschland“ hier bedeutet – den Staat, die Gesellschaft, die Bevölkerung, das Militär? Nur Letzteres wäre zu wenig. Die Meinungen und Loyalitäten in der Gesellschaft sind so heterogen, viele verfolgen vor allem ihre eigenen Positionen oder die ihrer Gruppe – gibt es noch genügend Gemeinsinn, selbst Verantwortung für die Verteidigungsfähigkeit zu übernehmen und auch Kosten und Risiken dafür in Kauf zu nehmen? Verteidigungsbereitschaft erfordert ja auch emotionale Bindung.

Es gäbe die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, sogar an der Waffe: Die Wehrpflicht ist ausgesetzt, nicht abgeschafft. Ist eine Wiedereinführung dran?

Es hat mir nicht gefallen, dass man sie 2011 ausgesetzt hat. Ich verstehe das Argument, es habe keine Wehrgerechtigkeit mehr gegeben, weil nur ein Bruchteil der Wehrpflichtigen überhaupt irgendeinen Dienst leisten musste. Aber das ließe sich anders lösen. Damals war die Wehrpflicht eher eine Dienstpflicht für Männer, was heute zu hinterfragen wäre. Die Idee, einen Dienst für die Gemeinschaft zu leisten, ist richtig. Der soziale Sektor könnte auch Zivildienstleistende gebrauchen. Man sollte die Wehrpflicht in eine Dienstpflicht umwandeln.

Bringen wenige Monate Wehrdienst der Verteidigungsfähigkeit etwas?

Das müssen die Militärs beurteilen, wie ein Wehrdienst aussehen und wie lange er dauern muss, damit er die Streitkräfte sinnvoll verstärkt.

Generalleutnant André Bodemann, einer der obersten Befehlshaber der Bundeswehr, sagt, Friedenszeiten seien lange vorbei, und bezieht sich auf Cyber-Attacken oder rätselhafte Drohnenflüge über militärischen Einrichtungen. Hat er Recht?

Ja. Das Verhältnis zu Russland lässt sich seit vielen Jahren kaum mehr mit einem positiven Friedensbegriff beschreiben. Putin führt einen Angriffskrieg und unterdrückt freie Meinungsäußerung im eigenen Land. Russland ist für viele Cyber-Attacken und andere mehr oder weniger versteckte Angriffe auf den Westen verantwortlich. Das ist kein Frieden im eigentlichen Sinn des Wortes. Ich bin auch von China enttäuscht. Als Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hätte China eine besondere Verantwortung für Frieden und Stabilität weltweit. Dass Peking Russland den Angriff auf die Ukraine durchgehen lässt, ihn vielleicht sogar indirekt unterstützt, ist bedrückend. Bei China ist kaum noch eine Selbstverpflichtung auf die Sicherheitsordnung der UN erkennbar. Damit spielt das Land keine konstruktive Rolle und ist Teil des Problems.

Nicht nur jungen Menschen – siehe die neue Studie „Jugend in Deutschland 2024“ – macht diese Zeit Angst. Zu Recht?

Das ist verständlich. Wir erleben gerade, wie ein gewisser globaler Konsens, an den wir uns nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks gewöhnt hatten, brüchig wird. Über Russland und China haben wir gesprochen. Ich möchte mich nicht an der Dämonisierung von Donald Trump beteiligen, aber wir müssen auch auf die Vereinigten Staaten und den globalen Süden schauen. Allerdings sagt man ja, Angst sei kein guter Ratgeber. Vielleicht lässt sich das Gefühl durch Vorsicht und Umsicht ersetzen.

Bernhard Koch ist habilitierter Moraltheologe. Seit 2007 ist er am Institut für Theologie und Frieden (ITHF) in Hamburg tätig, seit Anfang 2024 als kommissarischer Leiter. Koch war Lehrbeauftragter an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg, seit 2011 ist er Lehrbeauftragter für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2020 unterrichtet er regelmäßig an der Universität Freiburg. Das ITHF ist eine Forschungseinrichtung in Trägerschaft der katholischen Militärseelsorge.

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