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Es ist ein sonniger Oktobertag am Stift Tilbeck. Benjamin Rottmann sitzt im Blaumann mit Altenpfleger Frank Helmers im Café und ist bereit, ein bisschen von sich zu erzählen. Das macht er gerne, denn er war bereits im Fernsehen, und auch auf der Bühne kennt er sich aus. Es ist ihm also nicht fremd, im öffentlichen Mittelpunkt zu stehen.
Benni, wie alle den zwei Meter großen Bewohner von Stift Tilbeck nennen, hat gerade Feierabend gemacht. Er arbeitet im Fahrdienst des Stifts Tilbeck, kümmert sich darum, dass Schmutzwäsche durch neue Wäsche ausgetauscht wird und dass das Essen zu den verschiedenen Stationen kommt. Seine Arbeit bereite ihm Spaß: „Manchmal mache ich dann Pause und quatsche mit den Leuten hier. Meine Kollegen sind auch alle nett.“ Zu Fuß oder mit dem Elektrowagen ist er auf dem gesamten Gelände unterwegs.
Eigenständigkeit bewahrt
Im Stift Tilbeck wohnen Menschen mit einer leichten bis schweren geistigen Behinderung, aber auch alte Menschen. Benjamin Rottmann selbst hat eine leichte Intelligenzminderung. Lesen und Schreiben kann er nur eingeschränkt. Sich länger zu konzentrieren, fällt ihm schwer.
Und trotzdem steht der 40-Jährige mit beiden Beinen fest im Leben: Da er in Billerbeck in einer Außenwohngruppe von Stift Tilbeck wohnt, muss er zunächst mit dem Zug zum Bahnhof nach Havixbeck fahren, was er selbstständig erledigt, wie seine Pfleger berichten. Von dort fährt er etwa fünf Kilometer mit dem Fahrrad zu seiner Arbeitsstelle im Stift – und das jeden Tag. Hin und zurück. Seine Mutter wohnt ebenso in Billerbeck. Sie kümmert sich um den ganzen Papierkram, den Benni Rottmann nicht alleine erledigen kann.
Keine Angst vor großen Pferden
Im November wartet ein besonderer Höhepunkt auf ihn, denn beim Martinsumzug im Stift Tilbeck spielt er den Bettler. Bereits im letzten Jahr hat er die Rolle übernehmen dürfen: „Man hat mich gefragt, ob ich das machen möchte, und dann habe ich Ja gesagt.“ Vor dem Pferd, auf dem St. Martin reitet, habe er keine Angst gehabt, erinnert er sich: „Letztes Jahr hat eine Frau den heiligen Martin gespielt. Ein schwarzes Pferd war auch dabei. Das Pferd kam dann zu mir und hat mich angeschnuppert, aber ich hatte keine Angst. Später meinte die Frau auch zu mir, dass ich das echt gut gemacht habe.“
Was er beim Umzug machen muss, weiß er genau: „Ich sitze auf dem Boden oder auf einer Matte, weil es sonst ja zu kalt wäre. Dann kommt der St. Martin. Er reitet zwei Mal um mich rum und findet mich. Ich sage ihm, dass er mir helfen soll und dass mir kalt ist. Dann teilt er seinen Mantel und gibt mir die Hälfte.“
Lampenfieber kennt er nicht
Ein paar Zeilen Text hat Benni Rottmann also auch. Geprobt wird nicht mehr, doch aufgeregt sei er nicht, denn das Schauspielern kennt er bereits. Bei der Freilichtbühne in Billerbeck übernimmt er oft Nebenrollen. „Nö! Ich habe kein Lampenfieber. Also, am Anfang war ich schon ein wenig nervös, aber dann hat das echt Spaß gemacht. War alles gar nicht so schlimm“, erinnert er sich. Als Verkleidung trägt er einen Kartoffelsack und einen Hut. Und auch in ein Headset muss er sprechen. Das habe im letzten Jahr leider nicht funktioniert und ein paar Probleme gemacht, wie der Hobby-Schauspieler berichtet. „Aber gut, dass du so eine laute Stimme hast. So hat es auch ohne geklappt“, erinnert sich Altenpfleger Frank Helmers.
Nach der Aufführung, die sich auf dem großen Parkplatz von Stift Tilbeck abspielt, findet der Umzug statt, bei dem Bewohner aus Tilbeck und der Umgebung und die Kinder mit ihren bunt leuchtenden Laternen hinter St. Martin auf dem Pferd und Benni, dem Bettler, hermarschieren und singen.
Gesungen wird auch
„Da kommen dann ganz viele Leute und Kinder hin, die Feuerwehr mit den Fackeln und Musik ist auch da“, freut sich der 40-Jährige und verrät, dass er beim Umzug auch mitsingt: „Wir laufen an allen Häusern hier vorbei, und aus den Fenstern winken viele und freuen sich. Und am Ende gibt es noch eine Martinsgans für die Kinder und Glühwein für uns Erwachsene.“
Der 40-Jährige trifft gerne andere Leute. In seiner Freizeit verabredet er sich mit seinen Freunden oder telefoniert mit ihnen, wenn er sie gerade nicht besuchen kann. Auch nimmt er an vielen Angeboten des Stifts teil: „Wir waren schon mal im Movie-Park oder machen einen Kneipenbummel. Oder in der Disco bin ich auch oft. Da mache ich manchmal die Musik. Dann spiele ich Schlager, wie zum Beispiel Helene Fischer.“ Das Publikum, so berichtet Benni Rottmann, sei meistens begeistert von seiner Musik und tanzt. Da ist er natürlich auch oft dabei.
Ein geselliger Mensch
Benni Rottmann ist ein geselliger Mensch. Oft unterhält er sich mit anderen Bewohnern und muntert sie auf. Oder er misst mit anderen seine Kräfte. „Einmal habe ich Armdrücken mit dem Meik gemacht, der sitzt im Rollstuhl. Und das glaubt man nicht, dass die so eine Kraft haben, aber er hat mir richtig die Finger umgebogen und mich besiegt“, berichtet der 40-Jährige und liefert damit die Botschaft, dass man einen Menschen niemals unterschätzen sollte.
Benjamin Rottmann mag die Geschichte um den heiligen Martin: „Ich finde gut, dass er den Armen hilft und dass er nicht einfach an dem Bettler vorbei reitet, sondern guckt, wie es dem so geht.“ Und auch er selbst setzt sich trotz seiner Behinderung für andere ein: „Einmal im Bus 63 saß jemand vor mir und hat sich über einen von uns lustig gemacht und ihm Böses gesagt.“ Das ließ Benni Rottmann natürlich nicht zu: „Da bin ich dann aufgestanden und habe ihm gesagt, dass er aufhören soll, sonst sage ich dem Busfahrer, er soll ihn rausschmeißen. Der hat dann nichts mehr gesagt. Er könnte als alter Mann ja auch im Rollstuhl sitzen. Deshalb finde ich es echt gemein, dass er Ärger gemacht hat.“
„Jeder hat ein Handicap“
Außerdem engagiert sich Benni im Bewohnerbeirat, einem Gremium aus Bewohnern und Mitarbeitern. Hat ein Bewohner ein Anliegen oder ein Problem, kann er sich an Benni wenden, der dieses Problem dann regelt. Er und die anderen Mitglieder des Beirats haben zum Beispiel erreicht, dass an der Bushaltestelle, von der viele Bewohner morgens zur Arbeit fahren, eine Ampel platziert wurde, sodass alle sicher die Straße überqueren können. „Wir haben auch gemacht, dass es Licht in der Bushaltestelle gibt. Wenn es dort dunkel war, hatten nämlich viele Leute Angst.“
Fragt man Benni Rottmann, wieso er das Wort „Behinderung“ nicht mag, antwortet er gefasst: „Weil wir auch Menschen sind. Wenn einer etwas nicht so gut kann, gibt man dem direkt einen eigenen Namen und nennt ihn behindert. Das verstehe ich nicht, und das finde ich auch nicht gut.“ Er nutze lieber das Wort „Handicap“, denn „jeder hat irgendwie ein Handicap so wie ich, also sind wir alle gleich.“
Im nächsten Jahr möchte Benni wieder beim Martinsumzug mitspielen. Er könne es sich sogar gut vorstellen, mal St. Martin selbst zu spielen. Auf einem Pferd habe er jedenfalls schon öfter gesessen.