Erfahrungen in der Kirche brachten ihn zur Gewerkschaftsarbeit

Jörg Kreusel aus Hude – Diakon und Gewerkschafter

Einsatz für Kirche und für Kollegen – beides hat Diakon Jörg Kreusel geprägt. Bei einem Streik für Tariflöhne 2010 hat er als Betriebsrat der Atlas GmbH auch die Katholiken der Region für die Anliegen der Belegschaft mobilisiert.

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Damals hat er sich gewundert, vor neun Jahren, im November 2010. Als Jörg Kreusel mit Kollegen vor dem Werkstor seiner Firma demonstrierte und sich fragte: Wo bleiben bloß die Katholiken?

Es ging schließlich um viel. Ein neuer Chef hatte den Baumaschinenhersteller Atlas übernommen und wollte ohne Tariflöhne weitermachen. Der Belegschaft drohte er mit Begriffen wie Insolvenz, Produktionsverlagerung und Kündigungen.

 

Diakon Jörg Kreusel vermisste die Katholiken

 

Sechs Wochen dauerte der Arbeitskampf. Rund 650 Arbeiter an der Standorten Ganderkesee, Delmenhorst und Vechta bangten um ihre Zukunft.

„Die evangelische Gemeinde war von Anfang an mit ihren Pastoren dabei“, erinnert sich Jörg Kreusel. Als Gewerkschafter und Betriebsrat stand er mit in der ersten Reihe. Nach Vertretern von katholischen Gemeinden oder Verbänden aber sah sich der Maschinenbautechniker vergeblich um. Weder die Banner der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) noch die der Kolpingsfamilie flatterten im Wind, zumindest anfangs.

 

Jörg Kreusel informierte Gemeinden und Verbände

 

Den überzeugten Katholiken ließ das nicht ruhen. Kurzerhand organisierte er Informationsveranstaltungen in den Pfarrgemeinden der betroffenen Orte, Gespräche darüber, was die Pläne des neuen Fabrikbesitzers für die Belegschaft bedeuten – und für die ganze Region.

Mit Erfolg. Nach und nach entwickelten sich ein neues Verständnis und Miteinander. Kreusel erinnert sich zum Beispiel gut an einen Open-Air-Gottesdienst mit Pfarrer Norbert Lach vorm Werkstor in Ganderkesee, diesmal auch mit Bannern von KAB und Kolping. Und auch daran, wie man in der Firma am Ende eine für alle einigermaßen annehmbare Lösung fand. Er schaut zufrieden, als er davon erzählt.

 

Als Jugendlicher hat Kreusel die Kolpingsfamilie Hude mitgegründet

 

Zupackend passt gut als Beschreibung für einen, der sich kümmert, der stets zur Stelle ist, wenn Hilfe gebraucht wird, von Kindesbeinen an. Im Betrieb genauso wie in seiner Pfarrgemeinde oder in der politischen Gemeinde Hude. Egal, ob es dort um Flüchtlingshilfe geht, um Jugendarbeit oder Senioren. Ob er diese oder jene Sache in die Hand und Verantwortung übernehmen könne? Stellvertretender Sprecher des Huder Netzwerks Asyl zum Beispiel oder ehrenamtlicher Gemeindejugendpfleger? Na klar!

Gleich nach der Erstkommunion wurde Kreusel Messdiener. Als Jugendlicher gründete er 1985 die örtliche Kolpingsfamilie mit. Damals war er gerade mal 15 Jahre alt. Seit drei Jahrzehnten sitzt er im Pfarreirat der St.-Marien-Gemeinde in Hude im Landkreis Oldenburg.

 

Ohne Internet wäre Jörg Kreusel wohl kein Diakon

 

„Wir sind hier weniger als zehn Prozent Katholiken.“ Jörg Kreusel lächelt mit einem Blick, der sagt: „Das hat mir aber nie was ausgemacht.“ Wichtiger als Zahlen sind ihm Anpacken und Vorangehen. Das gilt auch für den Weg, der in den vergangenen Jahren sein Leben maßgeblich geprägt hat: in das Amt eines Ständigen Diakons.

Niemand hatte ihm dazu geraten oder einen Tipp gegeben. Er war selbst darauf gestoßen, im Internet. Ohne Google wäre Jörg Kreusel im vergangenen Herbst vermutlich nicht zum Diakon geweiht worden.

 

Zur Kreusels Diakonen-Ausbildung gehörte ein Praktikum im Altenheim

 

Was er dort las und später im Gespräch erfuhr, reizte den ledigen 48-Jährigen, der sich neben seinem Einsatz für andere zu Hause um seine Eltern kümmert. Es reizten ihn auch die mit der Ausbildung verbundenen ersten Erfahrungen, direkt am Menschen.

Ökumenischer Gottesdienst während des Streiks vor dem Werkstor der Firma Atlas im Herbst 2010. | Foto: Bernhard Wulftange
Ökumenischer Gottesdienst während des Streiks vor dem Werkstor der Firma Atlas im Herbst 2010. | Foto: Bernhard Wulftange

Ein halbes Jahr lang absolviert er das obligatorische Sozialpraktikum. Jeweils samstags oder sonntags unterstützte er das Pflegeteam in einem Altenheim, spielte zum Beispiel mit demenzkranken Bewohnern oder reichte Essen an. Alles neben seinem Job in der Maschinenfabrik. Der Diakon lächelt. „Montags um fünf klingelte wieder der Wecker.“

 

Jörg Kreusel arbeitet seit 18 Jahren im Atlas-Betriebsrat

 

Kirche und Firma, Firma und Kirche. Es sind diese Pole, die ihn wechselseitig geprägt haben und immer noch prägen. Erfahrungen in der Kirche brachten ihn zur Gewerkschaftsarbeit. „Der Grundstock dafür war das, was ich in der Kirche und in den Gremien dort erlebt habe.“ Zum Beispiel diese Erkenntnis: „Wenn ich etwas verändern will, dann nützen nicht Meckern und Weglaufen. Dann muss man da bleiben und immer wieder den Mund aufmachen und laut sagen, was einem nicht gefällt.“

Und zuhören. Kreusels Erfahrung nach 18 Jahren Betriebsratsarbeit: „Wer helfen will, braucht ein gutes Ohr für die Sorgen der Kollegen.“ Er nennt das: „Den Spirit aufnehmen“. Wenn er durch die Produktionshallen geht und Arbeiter fragt: „Was bewegt Euch? Wie kann ich Euch helfen?“ Was er im Betriebsrat lernt, hilft ihm auch in St. Marien. „Denn auch da muss man nah ran an die Leute, um mitzubekommen, was sie bewegt.“ Und zwar nicht nur an die, die man sonntags nach dem Hochamt trifft, sondern auch die an den Rändern.

 

Als Diakon will Jörg Kreusel an die Ränder gehen

 

Vor einiger Zeit hat der Diakon die Außenstelle der Delmenhorster Tafel besucht. „Ich war überrascht: Einige, die dort warteten, kannte ich. Menschen, die ich länger nicht gesehen hatte. Mit manchen bin ich früher zur Schule gegangen. Die waren jetzt gezwungen, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen.“

Kreusel sieht das selbstkritisch: „Warum ist uns als Gemeinde eigentlich nicht aufgefallen, dass sie irgendwann nicht mehr in die Kirche oder zu Veranstaltungen kamen? Manche vielleicht nur deshalb, weil sie sich den Beitrag nicht leisten können.“ Er versteht so eine Erfahrung als Auftrag für seinen Dienst als Diakon. „Zu schauen: Wen haben wir vielleicht verloren – und wo kann man noch einmal neu anfangen?“

Als Diakon will er auch künftig die Flüchtlingsarbeit in Hude weiter voranbringen. Das, was zum Beispiel die Huder Kolpingsfamilie mit Sprachkursen, Treffen und Begegnungen angefangen hat. Auch für Senioren in Pflegeheimen will er sich einsetzen, vielleicht einen festen Kommuniondienst in den Heimen aufbauen. „Dass ich da den Kontakt zur Gemeinde schaffe. Das geht ganz gut neben der Arbeit.“

 

Auch einige Kollegen haben Jörg Kreusel zur Weihe gratuliert

 

Ein geweihter Diakon als Kollege? Wie haben darauf eigentlich die anderen in der Firma reagiert? Als er sich seiner Sache sicher war, hatte Jörg Kreusel einigen davon erzählt und dabei ganz unterschiedliche Reaktionen erlebt.

Von: „Wie kann man das in der heutigen Zeit in dieser Kirche bloß noch tun?“ bis hin zu Leuten, die nach der Weihe zum Gratulieren in die Betriebsrats-Sprechstunde kamen: „Mensch, Super! Einer von uns ist Diakon!“

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