Krisenreporter Jan Jessen über Waffenlieferungen und Hoffnung auf Demokratie

Kriegsmüdigkeit im Westen ist nicht nur für die Ukraine hochgefährlich

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In wenigen Tagen jährt sich der Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine zum zweiten Mal. Jan Jessen ist als Reporter häufig in der Ukraine. Die Kriegsmüdigkeit der westlichen Partner droht, gefährlich zu werden. Weltweit, sagt er in seinem Gast-Kommentar.

Wer in diesen Tagen durch den Osten der Ukraine fährt, dort, wo das Grollen des Krieges immer zu hören ist, sieht ein versehrtes und ausgelaugtes Land voller tiefer Wunden. Nahezu menschenleere Dörfer, deren wenige verbliebene Bewohner traumatisiert und hoffnungslos wirken. Vereinsamte Straßen, beschädigt von den Ketten schwerer Panzer. Von Kugeln und Schrapnellen vernarbte Häuserwände, Ruinen von Fabrikgebäuden, Felder voller Bombentrichter, über die sich der bleierne Winterhimmel wölbt.

Nach zwei Jahren ist der Krieg aus militärischer Sicht statisch geworden. Die mit großen Erwartungen verknüpfte ukrainische Gegenoffensive ist bis auf taktische Erfolge gescheitert. Jetzt rennen die russischen Streitkräfte ohne Rücksicht auf Verluste gegen die ukrainischen Stellungen an. Tausende sterben beim Kampf um die Ruinenlandschaft, die einmal eine Industriestadt namens Awdijiwka war.

Zuviel zum Leben, zu wenig zum Gewinnen

Der Autor
Jan Jessen (geboren 1972), ausgebildeter Krankenpfleger, Politikchef der NRZ, als Krisen- und Konfliktreporter für die Funke Mediengruppe unterwegs u.a. in Afghanistan, Armenien, Israel, dem Irak, Syrien und der Ukraine.

Die ukrainischen Verteidiger klagen über einen eklatanten Mangel an Munition und Ersatzteilen für das von den westlichen Partnern gelieferte Kriegsmaterial. In den USA, dem wichtigsten Unterstützerstaat der Ukraine, wird weitere Hilfe durch innenpolitische Ränkespiele blockiert. Die Erhöhung der Rüstungslieferungen durch Deutschland kann das nicht kompensieren.

Die Ukraine erhält genügend Waffen, um gerade so zu überleben, aber nicht ausreichend, um den Krieg zu gewinnen oder sich durch Erfolge auf dem Schlachtfeld in eine günstige Verhandlungsposition zu bringen.

Grimmiger Autoritarismus weltweit auf dem Vormarsch

Moskau scheint ohnehin nicht an Verhandlungen interessiert, jedenfalls nicht vor den Präsidentschaftswahlen im März. Aus der bizarren russischen Sicht gilt es, noch weiteres Territorium zu befreien, das im Herbst 2022 völkerrechtswidrig annektiert wurde. In der ukrainischen Bevölkerung hat sich Fatalismus breit gemacht. In manchen Städten wirkt der Alltag oberflächlich so, als sei der Krieg vergessen, obwohl nahezu täglich irgendwo in der Ukraine Menschen bei russischen Luftschlägen sterben.

In der Bevölkerung der westlichen Partnerländer der Ukraine herrscht Kriegsmüdigkeit. Das blutige Rennen eine Tagesreise entfernt von Deutschland scheint mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten. Das aber darf nicht geschehen. Die Ukraine braucht weitere und entschlossene Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Es ist ein Krieg der Hoffnung auf Demokratie gegen den grimmigen Autoritarismus, der weltweit auf dem Vormarsch ist.

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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