Anzeige
Zwei Jahre nach der Münchner Missbrauchsstudie sieht Experte Ulrich Wastl weiterhin große Defizite bei Staat und Kirche. Er kritisiert Bischof Meier und Ex-Papstsekretär Georg Gänswein.
Zwei Jahre nach Veröffentlichung der Studie über sexuelle Gewalt im katholischen Erzbistum München und Freising bescheinigt Gutachter Ulrich Wastl der Kirche und dem Freistaat Bayern noch immer erhebliche Defizite im Umgang mit Missbrauchsopfern. Dem Bistum Augsburg warf Wastl im Gespräch mit der „Augsburger Allgemeinen“ (Dienstag) mangelnden Aufklärungswillen vor.
Das Bistum wolle lediglich eine Studie durchführen, die sich vor allem mit den Auswirkungen sexualisierter Gewalt auf Betroffene befasst und nicht mit den mutmaßlichen Tätern oder Vertuschern, so der Experte. Ohne vollständige Aufklärung hätten alle anderen Bemühungen kaum einen Wert.
Wastl kritisiert Bischof Meier und Gänswein
Wastl kritisierte, dass der Augsburger Bischof Bertram Meier kürzlich zunächst ablehnte, einem Missbrauchsopfer 150.000 Euro zu zahlen. Das sei erschütternd. „Das von den deutschen Bischöfen installierte System der Anerkennungsleistungen orientiert sich ausdrücklich an Entscheidungen staatlicher Gerichte über Schmerzensgeldzahlungen“, betonte der Rechtsanwalt.
Vorwürfe erhob er auch gegen den früheren päpstlichen Privatsekretär, Erzbischof Georg Gänswein. Dieser habe die Aufklärung der Vorwürfe gegen den damals emeritierten Papst Benedikt XVI./Joseph Ratzinger mit Blick auf dessen Zeit als Münchner Erzbischof (1977-1982) behindert zu haben. Gänswein habe versucht, mit rechtlichen Ausführungen „uns den Rahmen vorzugeben, in dem wir überhaupt arbeiten hätten dürfen“, berichtete Wastl.
Missbrauchsgutachter berichtet von Drohungen
„Ähnliches trug uns später unser Auftraggeber vor“, so der Gutachter. Allerdings habe das Erzbistum letztlich klar hinter der Unabhängigkeit der Kanzlei gestanden. „Aber es gab nicht nur im Falle Benedikts Einflussnahmeversuche und Drohszenarien“, fügte er hinzu. „Es wurde über Bande gespielt, verzögert und auf unseren Auftraggeber, die Erzdiözese München und Freising, eingewirkt.“
Die von der Staatsregierung eingerichtete Anlaufstelle für Opfer von Missbrauch und sexualisierter Gewalt erfülle nicht im Ansatz ihren nötigen Anspruch, sagte Wastl; sie sei ein Witz. „Ich habe den Eindruck, deren Einrichtung war mehr oder weniger dem Landtagswahlkampf geschuldet“, so der Rechtsanwalt von der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl. Mit deren Empfehlung von damals habe die Stelle allenfalls ansatzweise etwas zu tun.
Wastl fordert unabhängige Opferberatung
Wichtig wäre eine „gänzlich unabhängige und entsprechend finanziell ausgestattete Stelle, die Betroffene nicht nur umfassend berät, sondern auch deren Interessen vertritt“, mahnt der Sachverständige. Es müsse ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen Betroffenen und Kirche hergestellt werden.
Wastls Kanzlei stellte im Januar 2022 ein Gutachten vor, in dem von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Missbrauchstätern und von einem weit größeren Dunkelfeld die Rede war. Den ehemaligen Münchner Erzbischöfen Wetter und Ratzinger warf sie persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vor; ebenso dem aktuellen Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx.