Die wichtigsten Fragen zum Gutachten - Vorstellung am 20. Januar

Missbrauchsstudie München: Was wussten und taten Marx und Benedikt XVI.?

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Am morgigen Donnerstag will die Münchner Anwaltskanzlei Westphal-Spilker-Wastl (WSW) ein Gutachten zum Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt im Erzbis­tum München und Freising veröffentlichen. Es ist die zweite Studie zum Erzbistum; eine erste lag 2010 vor.

Warum wurde eine zweite Untersuchung angefertigt?

Als Hauptzweck wurde bei der Beauftragung durch das Erzbis­tum Ende Februar 2020 die vollständige Veröffentlichung genannt. Der Bericht soll Versäumnisse einzelner Verantwortlicher benennen und klären, wie es dazu kommen konnte, dass Missbrauchsfälle vertuscht wurden. Es geht auch um die Jahre von 2010 bis 2019. Das ist im Wesentlichen die Amtszeit von Kardinal Reinhard Marx. Eine erste Untersuchung, die im Dezember 2010 abgeschlossen wurde, deckte die Zeit von 1945 bis 2009 ab.

Wieso wurde die erste Studie nicht veröffentlicht?

Nach Auskunft der Erzdiözese sprachen Datenschutzgründe dagegen. Der 250 Seiten umfassende Text liegt in einem Tresor im Münchner Ordinariat. Marx, sein langjähriger Generalvikar Peter Beer und wenige andere kennen den Inhalt. Einige Ergebnisse wurden auf der Internetseite des Erzbis­tums eingestellt.

Was ist bekannt?

Laut Aktenlage sind von 1945 bis 2009 in der Erzdiözese 159 Priester wegen sexueller Übergriffe an Minderjährigen „auffällig geworden“. Die Anwälte gehen von einer erheblichen Dunkelziffer aus. Verurteilt worden seien 26 Geistliche, 17 weiteren ließen sich Sexualdelikte nachweisen. Alle diese Priester sind inzwischen tot. Die Personalakten wiesen zum Teil erhebliche Lücken auf, in großem Umfang seien Dokumente vernichtet worden. Vor allem Kleriker hätten einen „rücksichtslosen Schutz des eigenen Standes“ betrieben, um die Opfer habe sich die Kirche nicht ausreichend gekümmert.

Wer sind die Gutachter?

Die Kanzlei WSW war schon für mehrere Diözesen tätig. Im Auftrag des Eichstätter Bischofs Gregor Maria Hanke untersuchte sie riskante Anlagegeschäfte mit Bistumsvermögen auf dem US-Immobilienmarkt. Für das Bistum Aachen legten die Münchner Anwälte im November 2020 eine Missbrauchsstudie vor. Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki beauftragte sie ebenfalls mit einem solchen Gutachten. Kurzfristig zog er aber seine Zustimmung zur Veröffentlichung 2020 zurück, weil er es für mangelhaft und nicht rechtssicher befand, und gab einen neuen Auftrag an andere externe Juristen von der Kölner Kanzlei Gercke.

Wie unabhängig ist die neue Studie?

So unabhängig wie es eine Auftragsarbeit sein kann. Die Kanzlei hat schon einige Mandate von der Münchner Bistumsleitung erhalten, was intern und extern Kritik hervorgerufen hat. Der frühere Richter am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer, kritisierte bei „Spiegel Online“ das Verfahren generell als rechtswidrig. Schuld und Verantwortung kirchlicher Amtsträger müssten in einem kirchlichen Disziplinarverfahren nach rechtsstaatlichen Grundsätzen festgestellt werden. Es gehe nicht an, privaten Anwaltskanzleien das Recht einzuräumen, „Urteile ohne Richter“ zu fällen und diese zu publizieren.

Was ist von der neuen Untersuchung zu erwarten?

Der Bericht ist sehr umfangreich, nach Auskunft der Anwälte weit über 1000 Seiten stark. Zum Wiederholungstäter Peter H. gibt es einen Sonderband, der laut „Bild“-Zeitung allein 350 Seiten umfasst. Papst em. Benedikt XVI. – als Joseph Ratzinger von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising – hat sich dem Blatt zufolge auf 82 Seiten zu den Fragen der Anwälte eingelassen. So ausführlich hat er sich noch nie zuvor zum Thema Missbrauch geäußert.

Was kostet das Gutachten?

Für München liegt dem Vernehmen nach noch keine Rechnung vor. In Köln betrug das Honorar für WSW laut einer Aufstellung des dortigen Erzbistums 757.000 Euro.

Wer sind die wichtigsten lebenden Verantwortlichen, um die es in München geht?

Nach Joseph Ratzinger amtierte 25 Jahre lang Kardinal Friedrich Wetter als Erzbischof, bis 2008 Reinhard Marx übernahm. Aus Ratzingers Münchner Amtszeit lebt noch Generalvikar Gerhard Gruber.

Wer steht noch im Fokus?

Zum einen Peter Beer, von 2010 bis 2020 Generalvikar, heute Professor an der Universität Gregoriana in Rom und Mitarbeiter des päpstlichen Kinderschutzexperten Hans Zollner. Zum anderen der langjährige Münchner Kirchenrichter Lorenz Wolf, der etliche Urteile in kirchlichen Missbrauchsprozessen zu verantworten hat. Mehrere Verfahren führte er im Auftrag der Kirchenleitung in Rom, unter anderem zum Fall H., zu dem er laut Medienberichten im Mai 2016 ein Strafdekret unterschrieb. Dieses Dokument und Wolfs Rolle werden in den bisherigen Veröffentlichungen kontrovers beurteilt.

Wie wird Marx reagieren?

Der Kardinal bekommt laut  Kanzlei keinen Informationsvorsprung; er erfährt auch erst am 20. Januar, was im Gutachten steht. Das Erzbistum will sich mit der Reaktion Zeit lassen und hat sieben Tage später zu einer eigenen Pressekonferenz eingeladen.

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