Der lange Weg von Waltraud Fünfstück

Vom armen „Essener Straßenkind“ zum angesehenen Pfarreiratsmitglied

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Waltraud Fünfstück gehört zur neuen „Prozessgruppe“ für die künftige Seelsorge im Pastoralen Raum Wilhelmshaven. Die 68-Jährige nimmt kein Blatt vor den Mund. Das hat auch mit ihrer Herkunft zu tun.

In einer Pfarreiratssitzung ist ihr mal der Kragen geplatzt. „Wir müssen abwarten“, hieß es da, „abwarten, was passiert.“ Im Moment könne man froh sein, dass man noch einen Pfarrer habe. „Und wenn er mal nicht mehr zur Verfügung steht, dann sehen wir weiter.“

Da konnte Waltraud Fünfstück nicht anders als dazwischenzugehen. „Es kommt mir hier so vor, als würde man mir dauernd sagen: ,Du wirst in zehn Jahren Witwe.‘ Und ich soll jetzt warten, bis ich Witwe werde? Habe ich nicht das Recht, oder sogar die Pflicht, mich auf die Zeit ohne Priester vorzubereiten?“

Rückzugsort St.-Ludgerus-Kirche in Essen

Keine Frage: Die 68-Jährige redet Klartext. „So bin ich eben“, sagt sie achselzuckend, „ein Essener Straßenkind“. Die Kindheit im Ruhrgebiet habe sie geprägt, auch die schwierigen Zeiten. „Meine Mutter war die erste Frau im Bekanntenkreis, die sich hatte scheiden lassen. Wir waren fünf Geschwister, ich war die Zweitjüngste, und wir waren sehr arm.“ Sie zögert kurz und sagt dann: „Aber ich war auch reich!“

Denn da war ja diese Kirche. Waltraud Fünfstück lächelt. „Die Ludgeruskirche in Essen-Werden.“ Wenn sie als kleines Grundschul-Mädchen das schwere Eingangsportal aufgeschoben hatte und ins Innere geschlüpft war, „dann fühlte ich mich unfassbar beschützt und sicher. Ich war mir sicher, dass der liebe Gott darin wohnt.“ Sie hat nie vergessen, wie gut ihr das damals tat.

Sie wusste nicht, was Beten ist

Denn die Kirche half ihr gegen die Welt da draußen. Die Geldsorgen, das schwierige Leben mit fünf Geschwistern und ihrer alleinerziehenden Mutter – all das war von der Kirchenbank aus weit weg: der Schmerz, die Not und schlimme Erfahrungen, die sie nur andeutet. Ob sie dort dann gebetet habe? Sie schüttelt den Kopf. „Ich wusste ja gar nicht, was Beten ist. Ich wusste aber, dass ich Gott im Himmel alles sagen konnte, und das ohne Worte“.

Das mit dem Beten kam erst später wieder, viel später. Nach Zwischenstationen mit ihrer Mutter und den Geschwistern im Westerwald, dem Abgang vom Gymnasium nach der zehnten Klasse, ihrer Hochzeit mit 18, dem Umzug mit ihrem ersten Mann und zwei Kindern in den Norden. Er war Soldat bei der Marine in Wilhelmshaven. 1976 zogen sie nach Schortens im Kreis Friesland, wo sie immer noch wohnt, mittlerweile mit einem neuen Partner, mit dem sie zwei weitere Kinder bekam. Gleich hinter ihrem Haus geht die Sonne über dem Nebel des weiten Marschlands auf.

Gute Erfahrungen in der Gemeinde

Dass sie und ihr erster Mann in Schortens eine Wohnung ausgerechnet gegenüber der katholischen Kirche beziehen, fühlt sich für Waltraud Fünfstück im Rückblick wie eine Fügung an. Gut erinnert sie sich an den Hausbesuch des Pfarrers und wie sich damit für sie eine neue unbekannte Welt auftat. Der Anfang für eine neue Beziehung zu Gott und Glaube war gelegt.

Das hat sich bis heute nicht geändert, trotz mancher enttäuschenden Erfahrung mit dem hauptamtlichen Personal, die sie nur andeutet. Denn gute und ermutigende Begegnungen mit Ehrenamtlichen in der Gemeinde wogen das auf. Besonders die mit den Frauen, mit denen sich Waltraud Fünfstück regelmäßig auf die Suche nach Gott macht, in Eigenregie, ohne Priester.

Finanzielle Sorgen blieben ein Thema

Wo jede willkommen ist. Und wo das „Straßenkind aus dem Ruhrpott“ immer mehr Wissen über ihren Glauben aufsaugt. Wo es egal war, dass sie etwas anders tickte als die anderen, dass sie rauchte, dass es bei Partys bei ihr zu Hause auch mal hoch herging, dass man sie auch mal in der Kneipe treffen konnte. Wo sie selbst viel wichtiger ist als all diese Äußerlichkeiten.

Dabei muss sie weiterkämpfen. Um ihre Freiheit, um ihre Familie, um das Finanzielle. Waltraud Fünfstück hat keine Ausbildung und hält sich nach der Trennung von ihrem ersten Mann mit Pflegekindern über Wasser, die ihr ab 1988 das Jugendamt des Landkreises vermittelt.

Heute fährt sie Kinder zur Schule

Dreißig Jahre macht sie das. Manchmal hat sie drei oder sogar vier Kinder gleichzeitig, oft aus schwierigen Verhältnissen, die bei ihr ein Zuhause auf Zeit finden. „Das lag mir, weil ich die Armut dieser Kinder aus meiner eigenen Geschichte ja gut kenne“, sagt Waltraud Fünfstück und nennt es eine Gabe.

Dreizehn Jahre war sie zudem Pädagogische Hilfskraft an der örtlichen Grundschule. Und jetzt als Rentnerin transportiert sie im Rahmen eines Minijobs für ein Taxi-Unternehmen Kinder aus dem Wangerland nach Hooksiel zur Schule.

Beim Kickern verliert sie fast nie

Immer mehr ist sie mit den Jahren in die Gemeinde hineingewachsen. „Ich war vielleicht etwas anders als die meisten dort. Aber das spielte keine Rolle.“ Sie hatte etwas gefunden, das sie begeisterte. Einen Glauben, den sie in Gesprächen immer wieder neu kennenlernt, hinterfragt und dadurch stärkt.

Sie bereitet Gottesdienste vor, organisiert kirchliche Feste und Feiern, fährt die Sternsinger durch das Wangerland. Und sie freut sich, dass sie dies alles nicht allein tun muss, sondern dass sie, als Teil des Familienliturgiekreises, dazugehört. Besonders der Umgang mit Kindern und Jugendlichen liegt ihr. Vielleicht auch wegen ihrer Qualitäten am Kickertisch. „Zu null habe ich höchstens einmal verloren“, sagt sie und lacht.

Mit Gremien fremdelt sie anfangs

Als sie 2010 als Begleiterin bei der Messdiener-Wallfahrt nach Rom auf dem Petersplatz den Gottesdienst mitfeiert, wird ihr noch einmal schlagartig klar, was ihr durch die neuen Erfahrungen geschenkt ist. „Ich dachte: Das ist es! Das ist Gemeinschaft!“ Die Art von Heimat, die sie so lange gesucht hatte.

Mit den Gemeindegremien fremdelt sie allerdings anfangs. „Das ist nichts für mich“, dachte sie lange. „Da waren andere, vertrauenswürdige Menschen, die besser als ich in diese Ämter passten.“ Sie sei mehr am Wort Gottes, der Liturgie und den Menschen interessiert gewesen als an Strukturen.

Pastorale Räume sieht sie als Chance

Dennoch gehört sie mittlerweile zum Pfarreirat. Anlass war die Aussicht, dass die Gemeinden im Bistum Münster künftig in Pastoralen Räumen organisiert sein würden. „Ich dachte: Wenn ich jetzt nicht in die Gremien komme, dann weiß ich hinterher nichts davon.“ Sie wollte mitgestalten. „Und ich wusste: Wenn ich das will, dann muss ich mich aufstellen lassen.“

Also meldete sie Interesse an, als es um Delegierte für eine Prozessgruppe für die Entwicklung des neuen Pastoralen Raums Wilhelmshaven ging. Diese Gruppen sollen in der Startphase die Zusammenarbeit steuern. Waltraud Fünfstück lächelt. Ihre Ernennungsurkunde ist für sie ein wichtiges Zeichen dafür, dass sie sich ernstgenommen fühlen kann. Ähnlich wie die Urkunde, die sie zum Abschluss ihrer Ausbildung zu Leiterin von Wortgottesdiensten bekommen hat.

Sie wünscht sich Einsicht in die Wirklichkeit

Die erste Sitzung der Prozessgruppe hat sie bereits hinter sich. Ein Satz daraus klingt ihr noch besonders gut im Ohr: „Ich habe in meiner Gemeinde das Gefühl, nur noch den Untergang zu verwalten.“ Was negativ klingt, macht ihr Hoffnung, vielleicht gerade deshalb. „Weil ein bei der Kirche beschäftigter Mann sagt: Wir kommen allein so nicht weiter.“ Diese Einsicht fehle den meisten, sagt Waltraud Fünfstück.

Sie selbst sieht Pastorale Räume als Chance auf Zukunft, trotz Einschränkungen. „Unsere Kirchen sind leer, Kinder und junge Familien wandern ab, da verbleibt nur ein Rest! Da ist es an der Zeit zu handeln.“ Auf beiden Seiten. Auf der Verkündigungsseite wie auch auf der Seite der Gläubigen. Ihre Hoffnung: „Gemeinsam könnten wir aus der Mauer, die uns voneinander trennt, einen Tisch bereiten, an dem in einem anderen, guten Miteinander Laien und Amtskirche Platz nehmen können.“

Noch ein langer, steiniger Weg

Waltraud Fünfstück weiß, dass der Weg für den Pastoralen Raum noch lang und steinig ist. „Aber dann bin ich halt wieder das Kind, das gelernt hat, niemals aufzugeben, und das gewohnt ist, damit umzugehen.“ Sie sieht das Projekt als Chance. „Uns kommt es nicht darauf an, dass alles so wird oder so bleibt wie es war. Sondern: Wir wollen unser Christ-Sein leben.“ Das bedeute auch, Veränderungen zu akzeptieren. „Denn ein Leben mit Gott und seiner Kirche ist mehr wert als nur ein Überleben.“

Prozessgruppen für Pastorale Räume
In jedem der sechs Pastoralen Räume im niedersächsischen Teil des Bistums Münster sollen Prozessgruppen in den ersten 24 Monaten die pastorale Zusammenarbeit steuern. Jede Pfarrei konnte Mitglieder dafür vorschlagen. Weihbischof Wilfried Theising hat die Mitglieder berufen. Bis Anfang März werden alle Prozessgruppen ihre Arbeit aufgenommen haben.

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