Themenwoche Ehrenamt im Krankenhaus (2) - aus Münster

Wenn „Oma Frauke“ auf die Station kommt – wird alles gut

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Frauke Konietzny aus Dülmen wird im Clemenshospital in Münster von allen liebevoll „Oma Frauke“ genannt. Die 87-Jährige besucht dort seit 20 Jahren schwerkranke Kinder. Viele haben heftige Schicksalsschläge zu verkraften – ihre Familien nicht minder. Und alle sind dankbar. Alle.

Manchmal sitzt sie einfach nur eine Stunde an einem Krankenbett und hält eine Kinderhand. Manchmal summt sie dazu ein Lied. Manchmal singt sie oder liest etwas vor. „Das ist nichts Besonderes“, sagt sie. „Das tut jede Mutter oder Großmutter.“ Auf der Station für kinderneurologische Früh-Rehabilitation im Clemenshospital in Münster aber leistet sie damit etwas Herausragendes. Frauke Konietzny kommt mehrmals die Woche mit ihrem Auto aus Dülmen zu den kleinen Patienten und füllt mit der gemeinsamen Zeit eine unbezahlbare Lücke im Krankenhausalltag der betroffenen Familien.

Wenn die 87-Jährige von ihrem mehr als 20 Jahre währenden ehrenamtlichen Einsatz berichtet, ist das wie eine Perlenkette aus Lebensgeschichten. Sie reiht die Schicksale vieler Kinder aneinander, mit denen sie spielte, lernte, Zeit verbrachte. „Jeder dieser Wege war einzigartig, bereichernd und ermutigend“, sagt Konietzny. Wie viele sie begleitete, weiß sie nicht. „Die Zahl ist uninteressant, die Gesichter zählen.“ Gesichter von Säuglingen waren dabei, von Klein- und Schulkindern.

Abrupte Schicksalsschläge verändern Leben

Vor allem haben sie Zeit. Ein kostbares, weil rares Gut im Krankenhausgetriebe: Menschen – meist Frauen –, die ohne Bezahlung für kranke Menschen da sind. Kirche+Leben hat einige von ihnen begleitet und einen Chefarzt gefragt, was er über diese Ehrenamtlichen in einem hoch professionalisierten Umfeld denkt.

Ihre Begeisterung berührt mit dem Blick auf die Krankengeschichten, mit denen sie konfrontiert wird, besonders. Es sind schwere, belastende Schicksale. „Die Kinder, die hierherkommen, haben oft den Kampf gegen den Tod gewonnen.“ So beschreibt sie es selbst. „Hier kämpfen sie dafür, wieder ins Leben zurückkehren zu können.“ Unfälle und Krankheiten, manchmal auch Misshandlungen haben die Lebenswege der Patienten meist abrupt verändert. Sie sind auf der Station, um mit hohem medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Einsatz ihre Zukunft neu zu gestalten.

Die Extremsituation trifft nicht nur die kleinen Patienten. Die ganze Familie muss alles an Kräften aufbringen, um den Ausnahmezustand manchmal über mehrere Monate zu meistern: Berufe, Versorgung der Geschwister, Alltagsaufgaben, hinzu kommen manchmal auch familiäre Probleme, Streitigkeiten und psychische Überlastungen. Oft kommen sie von weither, weil es nur wenig ähnliche stationären Angebote in Deutschland gibt. Für Eltern und Verwandte ist es damit kaum möglich, das zu stemmen, was sie sich eigentlich wünschen: Rund um die Uhr für ihr Kind da zu sein.

„Oma Frauke“ schließt eine Lücke

An diesem Punkt kommt Konietzny ins Spiel. Oder besser „Oma Frauke“, wie sie von vielen auf der Station liebevoll genannt wird. Sie ist wirklich eine Oma, hat selber Enkel und Urenkel. Im Clemenshospital aber hat sie den Namen aus einem anderen Grund. „Sie ist wie eine Großmutter“, sagt Birgit Batenhorst. „Sie ist da und für die Kinder ist alles gut.“ Die Koordinatorin der Station weiß, dass Konietzny mit ihrer Zeit eine entscheidende Lücke schließt, weil sie mit einer anderen Geduld unterwegs sein kann. „Mediziner, Pflegekräfte und Therapeuten haben einen Zeitplan, müssen ihre Aufgaben erledigen – die Kinder sehnen sich aber durchgehend nach Nähe.“

Die Eltern stoßen an ihre Grenzen, weiß Konietzny. „Sie haben keine Freiräume, keine Zeit für sich, können nicht mal in Ruhe etwas einkaufen gehen.“ Sie erinnert sich an ein Paar aus dem Süden Deutschlands, das viele Wochen in Münster lebte, um möglichst viel Zeit am Bett seiner kranken Tochter zu verbringen. „Sie hatten nicht einmal den Dom oder das Rathaus gesehen.“ Dann kam die große Erschöpfung. Für alle in der Familie, auch für Großeltern oder Geschwister.

Auch die Zuneigung ist wichtig

„Kannst du dir das vorstellen?“ Mit dieser Frage beginnt dann der Einsatz von „Oma Frauke“. Eine Frage, die ihr das Pflegepersonal stellt. Eine Frage, die sie selbst Mutter und Vater stellt. Und eine Frage, die sie dem Kind stellt. „Kannst du dir vorstellen, dass wir zusammen Zeit verbringen?“ Das ist ihr genauso wichtig, wie dem Team der Station. „Wir wollen nichts aufzwängen, nichts künstlich herstellen.“

Es war auch die Frage, die sie vor mehr als 20 Jahren hörte, als sie mit ihren regelmäßigen Besuchen begann. Die pensionierte Grundschullehrerin hatte nach einer Operation selbst auf einer Station des Clemenshospitals gelegen und dabei Kontakte zu Ärzten und Pflegekräften geknüpft. Von denen fragte sie dann jemand, ob sie sich vorstellen könnte, einen Jungen zu besuchen, der nach einem Unfall auf der Intensivstation lag.

Als sich Svens Hand entkrampfte 

Sie konnte sich das vorstellen. Und sie erinnert sich auch sofort an ihren ersten Patienten. „Sven“, sagt Konietzny. „Die Eltern lebten bei Frankfurt, seine Großeltern kümmerten sich hier in Münster um ihn, so gut es ging.“ Der Vierjährige war querschnittsgelähmt, konnte sich nicht bewegen und nicht sprechen. Sie spielte ihm mit einer Handpuppe vor, las und sang. Und hielt seine Hand. „Es war wunderschön zu erleben, wie sich seine Hand entkrampfte, wie sein flaches Gesicht Ausdruck bekam.“

Sie sollte noch so viele dieser Momente erleben. „Eine spürbare Beruhigung, ein Lächeln, ein Streicheln über den Arm …“ Sie erzählt von diesen Ereignissen wie von „Perlen“, die sie in ihrer Erinnerung aufreiht. Die nicht immer aus kleinen Dingen entstanden. Mit einigen Kindern konnte sie zusammen malen, spielen oder musizieren. Gespräche, gemeinsames Lachen, Spaziergänge im Krankenhausgarten gehörten auch dazu.

Abschiede fallen nie leicht

Mit dem achtjährigen Mädchen im Rollstuhl, das Frauke Konietzny derzeit besucht, ist das ähnlich. Nach einer schweren Virusinfektion erholt es sich nur langsam wieder, ein Bein musste amputiert werden, es sitzt im Rollstuhl. Konietzny weiß, wie gern die Kleine liest und dass sie gut in Mathematik ist. Da kommt die Grundschullehrerin in ihr durch: „Sie hat übermorgen Geburtstag und bekommt ein Buch von mir.“ Die Geschenktüte und die Glückwunschkarte hat „Oma Frauke“ selbst gebastelt, in bunten Farben. „Ich wünsche dir viele Regenbogen-Momente“, steht darauf.

Die Beziehungen, die entstehen, sind intensiv, der Abschied nie leicht. „Er kommt aber immer an einem Punkt, an dem es um Besserung geht“, sagt Konietzny. „Wer die Station verlässt, hat sich so erholt, dass er einen nächsten Schritt gehen kann.“ Das Mädchen wird einen Tag nach dem neunten Geburtstag in eine Reha-Einrichtung nahe ihrem Heimatort bei Frankfurt verlegt. „Ich werde Kontakt mit den Eltern halten und mich über die weitere Entwicklung erkundigen.“ Vielleicht wird sie mal dorthin fahren, um die kleine Patientin zu besuchen. So wie „Oma Frauke“ es schon bei vielen ihrer „Krankenhaus-Enkel“ gemacht hat.

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