Weihbischof Stefan Zekorn: Vom Säen und Sehen

Auslegung der Lesungen vom 5. Fastensonntag / Lesejahr B

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Sehen und Sehen – dabei es enorme Unterschiede. Das macht Jesus selbst seinen Jüngern deutlich. Er lädt sie zu einer geistlichen Sehschule ein und spricht von einer tieferen Dimension des Sehens mit göttlichem Blickwinkel, die zur „Erhöhung“ des Kreuzes führe, erklärt Weihbischof Stefan Zekorn und legt die Lesungen dieses Sonntags aus.

Sehen und Sehen ist nicht das Gleiche! Welch ein Unterschied, ob ein Augenarzt seinen Patienten in der Praxis tief in die Augen sieht oder ob er zu Hause tief in die Augen seiner Frau blickt. „Wir möchten Jesus sehen.“ Griechen, die dem Judentum nahestehen und sich zum Osterfest in Jerusalem aufhalten, tragen diese Bitte an Philippus heran. Aber was hätten die Griechen geschaut, wenn sie Jesus gesehen hätten? Ihre Augen hätten einen Mann in mittlerem Alter mit einem wahrscheinlich durch körperliche Arbeit gekräftigten Körperbau wahrgenommen.

Dieses Sehen hätte den Griechen nicht viel erschlossen. Bei Jesus gibt es, außer ein paar Wundern, nichts Spektakuläres zu sehen: kein Mann in buntem Kostüm für eine Fernsehshow. Bei Jesus gibt es am Ende das Gegenteil zu sehen: einen sterbenden, schmerzverzehrten Mann auf einer Hinrichtungsstätte. Deshalb heißt es im Johannes-Evangelium im Zusammenhang mit der Kreuzigung Jesu: „Sie werden auf den sehen, den sie durchbohrt haben“ (19, 37).

Jesus lädt in geistliche Sehschule ein

Die Lesungen vom 5. Fastensonntag / Lesejahr B zum Hören finden Sie hier.

Aber wer möchte so etwas schon sehen? Selbst die Jünger laufen bei der Kreuzigung weg. Erst nach der Auferstehung werden ihnen die Augen geöffnet. Sehen, was ist, und sehen, was es bedeutet, ist eben nicht das Gleiche. Deshalb geht Jesus nicht auf die Bitte der Griechen ein. Stattdessen deutet er seinen Jüngern in verschlüsselter Sprache an, was sie demnächst sehen werden: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ Diesen Jesus gibt es zu sehen, den Jesus am Kreuz, das Weizenkorn, das stirbt.

Auf diese Weise lädt Jesus seine Jünger in eine geistliche Sehschule ein. Das Evangelium ist eine Sehschule des Glaubens. Die Apostel und mit ihnen auch wir sollen das rechte Sehen lernen. Es geht um ein Sehen, das den wahren Durchblick verschafft, das nicht an Äußerem hängen bleibt, sondern aus dem Blickwinkel Gottes sieht. Gott möchte, dass wir ihn erkennen, wie es in der ersten Lesung heißt, und seine Sichtweise übernehmen. Dabei ist das Sehen mit den Augen Gottes eine Sehweise, die auch Jesus nicht immer leichtgefallen ist. In der zweiten Lesung steht, dass er „den Gehorsam gelernt“ hat. Im Evangelium sagt Jesus, dass er „erschüttert“ ist. Und am Ölberg musste er sich zu der Sichtweise des Vaters durchringen.

Blick in tiefere Dimension

Wo die normalen Augen Leiden und Schmerz Jesu sehen, da blickt die Sehweise Gottes durch auf die tiefere Dimension, nämlich auf die Liebe des Sohnes zum Vater, die in seinem Leiden aufscheint. Jesus nennt dies die „Verherrlichung“ des Vaters. Und wo das normale Auge nur Sterben und Wirkungslosigkeit sieht, da blickt die Sehweise Gottes durch auf die tiefere Dimension der Fruchtbarkeit des sterbenden Weizenkorns. Jesus spricht deshalb von seiner „Erhöhung“ am Kreuz, durch die er die Menschen an sich ziehen wird.

Von daher wird verständlich, was Jesus zu den Aposteln und damit auch zu uns sagt: „Wer sein Leben liebt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben.“ Das sind Worte von einer zunächst abstoßenden Deutlichkeit. Sie lassen sich aus rein menschlichem Blickwinkel kaum ertragen. Doch aus der Perspektive Gottes wird deutlich, dass ein Festhalten an dem, was aus menschlicher Sicht als Leben erscheint, zum Verpassen des wirklichen Lebens führen kann. Aus dem Blickwinkel Gottes wird sichtbar, dass jemand, der sein Leben loslässt und verschenkt, tatsächlich das wahre Leben findet. Dies zu sehen, will uns Jesus in der Sehschule des heutigen Evangeliums lehren.

Deshalb werden die Kreuze verhüllt

Sehen und Sehen ist eben nicht das Gleiche. Das gilt nicht nur für den Augenarzt. Das gilt erst recht im Leben aus dem Glauben. Gerade deshalb werden nun die Kreuze in den Kirchen verhüllt. So können wir lernen, die gewohnte Wirklichkeit neu und tiefer zu sehen. Wir brauchen den Blick des geistlichen Auges, das nicht nur das Vordergründige sieht, sondern das den Durchblick auf die Tiefendimension des Lebens hat, den uns der Glaube ermöglicht. Der verstorbene Aachener Bischof Klaus Hemmerle hat im Hinblick darauf einmal folgende Wünsche formuliert: „Ich wünsche uns Augen, die im Tod bis zum Leben, in der Schuld bis zur Vergebung und in den Wunden bis zur Herrlichkeit zu sehen vermögen.“

Sämtliche Texte der Lesungen vom 5. Fastensonntag / Lesejahr B finden Sie hier.

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