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Erwin Kräutler, Bischof von Amazonien, war zu Besuch im Bistum Münster. „Kirche-und-Leben.de“ sprach mit ihm über Reformprozesse im Vatikan, die Gemeindeleitung durch Laien und die Amazonien-Synode 2019.
„Kirche-und-Leben.de“: Ihre Diözese Xingu ist so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Sie umfasst 800 Gemeinden. Das kirchliche Leben wird vor allem von Frauen getragen. Es gibt 30 Priester. Wie feiern Sie Eucharistie?
Bischof Erwin Kräutler: Die Eucharistiefeier ist ein Privileg für wenige. Die Menschen haben aber ein Recht auf die Eucharistie, weil sie ein Gebot Jesu ist. In Amazonien haben 90 Prozent der Christinnen und Christen keine reguläre Eucharistiefeier, 70 Prozent nur zwei, drei oder vier Mal im Jahr. Die Leute kommen jeden Sonntag in kleinen Basisgemeinden zusammen.
Vor Jahren war ich einmal bei Papst Johannes Paul II. zum Ad-Limina-Besuch. Damals gab es 16 Priester und 40 Ordensleute in meiner Diözese. Der Papst fragte mich auch: „Wie machen Sie das?“ Da habe ich gesagt: „Es gibt auch noch die Laien.“
Am Sonntag ist dann leider nur Wortgottesdienst. Das ist aber nicht abwertend, wenn ich sage „nur“. Papst Franziskus erwartet von uns Bischöfen – das hat er mir persönlich gesagt – couragierteste Vorschläge, um das Problem zu lösen. Er sagte: „¡Sean corajudos!“ „Seid sogar verwegen.“ Es muss soweit kommen, dass wir eine Antwort geben, denn die Gemeinden haben ein Recht auf die Eucharistie-Feier.
In Deutschland besuchen nicht einmal mehr zehn Prozent der Katholiken eine Sonntagsmesse und nehmen an der Eucharistie teil. In Ihrer Diözese haben nahezu 90 Prozent nicht die Chance, an einer Eucharistiefeier teilzunehmen. Sind das nicht zwei unterschiedliche Ausgangslagen mit fast ähnlichen Konsequenzen?
Erwin Kräutler, Jahrgang 1939, war von 1981 bis 2015 Bischof der brasilianischen Diözese Xingu in Amazonien. Der gebürtige Österreicher setzt sich als einer der bekanntesten Vertreter der Befreiungstheologie Lateinamerikas für die Rechte indigener Völker und den Schutz des Regenwaldes ein. Papst Franziskus hat ihn beauftragt, die Amazonien-Synode 2019 vorzubereiten. Dabei wird es auch um neue Formen der Gemeindeführung durch Laien gehen.
Ja, das kann man so sagen. Es ist die Aufgabe der Kirche in Deutschland zu sehen, wie wir näher zu den Menschen kommen. Das ist auch unser Auftrag drüben in Amazonien: Menschen abholen in ihren Nöten, Ängsten, Freuden und Hoffnungen.
Ich möchte die Katholizität von Menschen aber nicht allein daran messen, dass sie jeden Sonntag in der Kirche sind. Es geht darum, auch während der Woche Christ und Katholik zu sein. Eine Gemeinde hat verschiedene Dimensionen: die samaritanische Dimension, dass wir auf die Menschen zugehen. Die prophetische Dimension, dass wir den Mut haben, Ungerechtigkeiten und Gewalt anzuprangern und uns zu fragen: Warum sind Leute arm? Jemand trägt Verantwortung dafür. Meistens werden Menschen arm gemacht.
Und dann gibt es die familiäre Dimension. Sie kommt in Mitteleuropa nicht mehr so zum Ausdruck. Man geht in die Kirche und kennt sich nicht. Das ist für mich eine Katastrophe. Ich sitze, stehe, knie neben Menschen, die ich nicht einmal frage: Wie geht es dir? Das ist bei uns in Amazonien anders, die schwerfälligen Strukturen fallen bei uns weg. Das ist auch die positive Seite am Priestermangel, weil die Leute selber tätig werden müssen, wenn sie als Christinnen und Christen leben wollen.
Papst Franziskus hat die Bischöfe aufgefordert, über neue Formen der Zulassung zum Priesteramt nachzudenken? Wie kann das aussehen?
Wir sollen mutige Vorschläge machen. Wir können etwa darüber nachdenken, dass Menschen, Männer und Frauen, die einer Gemeinde vorstehen, dazu beauftragt werden und auch dafür die Weihe erhalten, am Sonntag der Eucharistie vorzustehen.
Fritz Lobinger, der deutsche Bischof, der jahrzehntelang in Südafrika gewirkt hat, schlägt ein „Team of elders“ vor. Das meint erfahrene Menschen in einer Gemeinde, die den Auftrag erhalten und geweiht werden, am Sonntag der Eucharistiefeier vorzustehen. Die Leute sollen aber nicht in andere Gemeinden gehen, sondern für ihre eigene Gemeinde die Verantwortung tragen. Das ist ein Vorschlag.
Sind solche Reformen aktuell durch den Papst überhaupt durchsetzbar? Sie sind jetzt 78 Jahre, werden Sie das noch erleben?
Das weiß ich nicht, aber solange ich lebe, werde ich mich einsetzen für diese Anliegen.
Das Amazonas-Gebiet ist von Zerstörung bedroht, etwa durch Abholzung der Regenwälder. Was können die Kirchen und die Christen Europas für die Leidtragenden, die Indigenen und Armen tun?
In Amazonien hat man das drittgrößte Kraftwerk der Welt gebaut. Man hat das Projekt als Geschichtsprojekt erklärt. Die Bewohner hat man zwangsumgesiedelt. Es ist eine furchtbare Erfahrung, aus der ureigenen Region, wo indigene Völker seit Urzeiten leben, herausgerissen zu werden. Die Kultur geht zugrunde. Amazonien ist heute kein Anliegen allein von Brasilien, das 64 Prozent der Region einnimmt. Auch nicht die Angelegenheit der Anrainer-Staaten: etwa Bolivien, Ecuador, Peru, Kolumbien. Amazonien ist eine Überlebensfrage für den ganzen Planeten. Die Region hat eine klimaregulierende Funktion für die gesamte Erde.
Im Bischöflichen Rat für indigene Völker setzen wir uns ein für das Überleben der indigenen Völker im Amazonasgebiet. In Deutschland gibt es Organisationen wie Misereor, Adveniat, Missio und das Kindermissionswerk. Darüber können Menschen mithelfen, dass wir weiterarbeiten können.
Die päpstliche Enzyklika Laudato Si spricht Amazonien direkt an. Die Enzyklika wird weltweit wertgeschätzt. Wie schafft man es aber, ihre Ziele umzusetzen?
In der Nummer 38 hat der Papst klar gesagt, dass Amazonien in unserer Verantwortung steht. Es wird nie etwas politisch umgesetzt, wenn es nicht zuvor die Kleinarbeit der Leute gibt. Sie müssen anfangen, darüber zu reden. Amazonien steht auch für Mitteleuropäer direkt vor der Haustür. Die Politiker müssen sich stark machen für Amazonien.
2019 plant der Vatikan eine Amazonien-Synode. Was sind Ihre Ziele und Erwartungen an die Synode?
Die Synode hat der Papst einberufen für November 2019. Aber im Vorfeld ist schon allerhand passiert. Wir haben eine Großversammlung der Bischöfe von Amazonien gehabt. Von den 56 Bischöfen waren 53 da. Da wurde deutlich, dass Amazonien zum Test für die brasilianische Kirche, für die Nation und die Welt wird. Es geht um die Erhaltung des tropischen Regenwaldes. Und es wird um neue Wege der Evangelisierung mit Blick auf die indigenen Völker gehen.
Sie bekommen Todesdrohungen. Wer will Sie beseitigen?
Buch-Tipp
Ich stehe seit elf Jahren unter Polizeischutz, rund um die Uhr. Kurz zuvor hat man eine Mitarbeiterin von mir, eine Ordensfrau, ermordet. Da wusste ich für einige zu viel.
Ich habe mich immer gegen dieses Monster-Wasserkraftwerk Belo Monte gestellt. Da war ich einigen ein Dorn im Auge. Das dritte war meine Verteidigung der indigenen Völker. Da habe ich mich gegen die Ambitionen der Bergwerksgesellschaften, Großgrundbesitzer, Goldschürfer und Holzfäller gestellt.
Und dann gab es einen weiteren schrecklichen Fall, bei dem man zwölf- bis 14-jährige Mädchen missbraucht hat. Sie waren in unserer Schule. Man hat sie eingeladen, eine Runde mit dem Auto, einem richtigen Schlitten, zu drehen, sie unter Alkohol und Drogen gesetzt. Die Eltern sind zur Polizei gegangen, die aber nichts getan hat. Und wenn alle Stricke reißen, geht man in Brasilien zum Bischof. Ich habe alles in Bewegung gesetzt bis in die Hauptstadt Brasilia. Die Täter wurden festgenommen, alle kamen aus der höheren Etage – ein Gemeindevertreter, ein Unternehmer, ein Gynäkologe waren dabei.
Lateinamerika gilt auch als Kontinent der Befreiungstheologie? Ist das heute noch von Bedeutung?
Befreiungstheologie ist biblisch. Sie wurde nicht erfunden, sie ist in der Bibel begründet. Gott offenbart sich schon im Exodusbericht als ein Gott, der sieht, der hört, das Leid kennt und aus der Sklavenhütte befreit. Jesus hat sich als eschatologischer Richter mit den Armen identifiziert. Wir setzen uns deswegen für die Armen ein, weil Jesus uns diesen Auftrag erteilt hat.
Aus europäischer Sicht hat man Befreiung mit militantem Marxismus in Verbindung gebracht. Ich bin seit 52 Jahren am Xingu, 36 Jahre als Bischof. Es gibt keine einzige Gemeinde, die auch nur im Ansatz gesagt hat, man müsse sich mit Waffengewalt verteidigen.