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Als Kind von einem Vikar missbraucht und doch der Kirche treu geblieben. Heinz Sprenger ließ sich trotz seiner grausamen Erfahrungen zum Diakon weihen. Wie konnte er das?
Er macht oft eine Geste, wenn er von jenen Ereignissen vor fast fünf Jahrzehnten spricht. Heinz Sprenger nimmt die Hände vor die Brust und dreht die Handflächen nach außen. So als wolle er sich vor etwas schützen, etwas abwehren, jemanden wegstoßen. Diese Haltung ist auch eine innere. Denn sie stand lange Zeit für sein Gefühl in Situationen, in denen er sich überfordert, machtlos oder ausgenutzt fühlte. Er zog sich zurück, ging in Deckung, igelte sich ein.
Warum das so war? „Die Antwort darauf habe ich erst in den vergangenen Jahren gefunden“, sagt der 60-Jährige. „Es war ein langer Weg der Reflexion, der Überwindens und der Blicke tief in mein Unterbewusstsein.“ Nur so konnte er die „Kapsel“ öffnen, wie er es nennt. Jene Kapsel, in die er seine Erlebnisse als Zwölfjähriger tief im Unterbewusstsein vergrub, um sich ihrem Schmerz nicht aussetzen zu müssen. „Immer mal wieder kam da etwas an die Oberfläche – ich konnte es aber schnell wieder wegschließen.“
Der coole Vikar und der Missbrauch
Mit der Pfarrjugend aus seinem Heimatort Willebadessen im Erzbistum Paderborn ging es für ihn damals ins Ferienlager nach Dänemark. Der Vikar, der die Freizeit leitete, war erst kürzlich in die dortige St.-Vitus-Gemeinde versetzt worden. „Ein echt cooler Typ, einer auf Augenhöhe, mit vielen neuen Ideen.“ Ein Programmpunkt der 50-köpfigen Jugendgruppe war eine Schiffsreise vom dänischen Nyköbing ins schwedische Helsingborg. Am Abend aber fühlte sich Sprenger nicht gut, die Seefahrt oder das Essen waren ihm nicht bekommen.
Er solle sich in einem abgelegenen Zimmer erholen, sagte der Vikar und gab ihm Medikamente. Die allerdings bewirkten vor allem eine Benommenheit. „Ich war betäubt, wie gelähmt“, erinnert sich Sprenger. Als der Vikar am späten Abend zu ihm kam, war er ihm völlig ausgeliefert. „Ich bekam alles mit, konnte mich aber nicht wehren.“ Den sexuellen Missbrauch erlebte er komplett hilflos. Wohl aber hob er seine Hände vor dem Körper und drehte zur Abwehr die Handflächen nach außen. Jene Geste, die er lange Zeit unbewusst erlebte. Heute sind seine Erinnerungen sehr klar. Aber nicht weniger schmerzlich.
Im Glauben tief verwurzelt
Doch lange Zeit blieben sie „verkapselt“. Sprenger machte seinen Weg mit diesem Ballast tief in ihm drin. Nach dem Abitur studierte er Theologie, Geschichte und Physik auf Lehramt. Er zog irgendwann mit seiner Frau ins münsterländische Heiden, wurde Lehrer an der dortigen St.-Ursula-Realschule und Vater von vier Kindern. Und ständiger Diakon: 2010 wurde er im Paulusdom in Münster ausgesandt.
„Der Glaube ist für mich Heimat geblieben“, antwortet Sprenger, wenn er gefragt wird, wie er sich in den Dienst einer Kirche stellen konnte, in deren Raum ihm das angetan wurde. „Es war ja nicht Gott, der mich missbraucht hat.“ Sein Glaube war tief verwurzelt. „In meinem Elternhaus, in meiner Jugendzeit, auf meinem ganzen Lebensweg.“ So tief, dass er sich trotz seiner Erlebnisse bewusst entschieden hat, mit seiner schweren Glaubensgeschichte in der Kirche zu bleiben. „Im Gegenteil – unbewusst habe ich im Glauben sicher immer wieder Kraft gefunden, mit dem Erlebten fertig zu werden.“
Missbrauchstat gleicht einer Blaupause des Versagens
Das galt auch für die Zeit, in der er die „Kapsel“ kaum noch schließen konnte. Das war vor knapp zehn Jahren. Er reagierte vor allem somatisch, wurde immer häufiger krank, zum Teil mit so gravierenden Symptomen, dass die Ausfallzeiten im Beruf und im Dienst als Diakon mehr wurden. Die bewusste Auseinandersetzung in einer Therapie folgte. Und damit auch die Aufarbeitung der Fakten jener Zeit.
Die lesen sich erschreckend vertraut – wie eine Blaupause bekannter Fälle individuellen und institutionellen Versagens in Fällen sexuellen Missbrauchs in der Kirche. Der Vikar hatte bereits eine Haftstrafe wegen Missbrauchs verbüßt, bevor er aus einem anderen Bistum nach Willebadessen versetzt worden war. Nur wenige Wochen nach der Freizeit in Dänemark wurde er von einem auf den anderen Tag wieder abberufen. „Er war später noch an anderen Orten in der Jugendseelsorge im Einsatz“, hat Sprenger herausgefunden. „Aber nichts davon war öffentlich geworden, bis ich 2019 den Kontakt zum Erzbistum suchte.“ Erst danach ploppten eine Reihe weitere Missbrauchstaten auf, die der mittlerweile verstorbene Täter begangen hatte.
Neuer Leidensweg beginnt
An dieser Stelle bekommen seine Erzählungen eine andere Dynamik. Denn ab diesem Kontakt geht es um einen neuen, jüngeren Leidensweg, sagt Sprenger. „Meine ersten Gespräche zunächst mit den Zuständigen im Bistum Münster und dann im Erzbistum Paderborn waren furchtbar“, erinnert er sich. „Es ging nur um juristische Fragen, um finanzielle Diskussionen, um Glaubwürdigkeit.“ Ihm als spiritueller Mensch fehlte dabei eine professionelle seelsorgliche Dimension. „Es gab niemanden, der mit therapeutischem Fachwissen und christlichem Mitgefühl auf mich zukam.“
Das trieb ihn an. „Da kam der Diakon in mir durch.“ Er sah in den Betroffenen Menschen mit individuellen Bedürfnissen, sagt Sprenger. „Jeder muss auf eine andere Art angesprochen werden.“ Dem einen gehe es nur um die finanzielle Entschädigung. Ein anderer brauche Unterstützung im sozialen Umfeld oder im Alltag. Andere benötigten therapeutische oder medizinische Hilfe. „Einige suchen aber auch eine spirituelle Möglichkeit, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen.“
Trotz allem der Kirche verbunden
Das gilt in seinen Augen nicht nur für jene Betroffene, die trotz des Missbrauchs nicht mit ihrem Glauben und der Kirche gebrochen haben. „Das gilt zum Teil auch für jene, die einen solchen Schnitt gemacht haben“, sagt Sprenger. „Denn alle sind ja als Kinder und Jugendliche eng verbunden mit der Kirche aufgewachsen.“
Mit diesen Gedanken ging er in neue Aufgaben im Erzbistum Paderborn. Neben den vielen anderen Angeboten wollte er vor allem Kontaktmöglichkeiten „mit hoher Empathie, fachlichem Wissen in der Trauma-Arbeit und seelsorglicher Kompetenz“ schaffen. Das Erzbistum ermutigte ihn, sich dafür zu engagieren. Er wurde Sprecher der dortigen Betroffenen-Gruppe und setzte sich für ein Treffen ein, in dem neben praktischer Unterstützung eben auch spirituelle Angebote ihren Platz haben. „Leider wurde die lang geplante Veranstaltung immer wieder verlegt – das zeigt, dass die Vorschläge, auf die Betroffenen seelsorglich zuzugehen, lieber auf die lange Bank geschoben werden.“
Heinz Sprenger fordert Multiprofessionalität
Die Auseinandersetzung mit seinem eigenen Glauben ist auch bei ihm persönlich geblieben. „Ich habe eine andere Art gefunden.“ Meditation, Stille, persönliches Gebet haben für ihn an Bedeutung gewonnen. Zum Verfassten, Rituellen oder Liturgischen spürt er noch eine Distanz. „Lange Zeit habe ich nicht mehr als Diakon am Altar gestanden.“ Er hat keinen radikalen Schnitt vollzogen, einige Hürden aber sind geblieben. „Weil die Auswirkungen von Strukturen und Macht in meiner Seele Spuren hinterlassen haben.“
Er ist froh, dass es mittlerweile Bistümer gibt, die den multiprofessionellen Ansatz in den Angeboten für von Missbrauch Betroffene umsetzen. Auch in Münster hat er dazu etwas angestoßen, sagt Sprenger. Seit einigen Monaten gibt es im Bistum mit Monika Stammen eine Ansprechpartnerin für seelsorgliche Angebote. „Ich bin auch hier gern bereit, mitzuhelfen und Ideen zu entwickeln.“ Er will da weiter Energie reinstecken. Als einer, der seinen Glauben nicht verloren hat, obwohl er im Raum der Kirche Grausames erleben musste.
Heinz Sprenger plant für das Frühjahr 2024 ein Treffen für Betroffene sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Raum. Dabei soll es um Gesprächs- und Entspannungsangebote sowie spirituelle Impulse gehen. Auch psychologische Unterstützung wird es geben. Da bereits im Vorfeld absolute Vertraulichkeit gesichert wird, bittet Sprenger Betroffene, sich von sich aus bei ihm zu melden: betroffene-treffen-sich(at)web.de