Betroffenen-Beirat fordert umgehende Korrekturen bei Missbrauchs-Anerkennung

Norpoth: Nur die Bischöfe können Klagewelle zu Schmerzensgeld verhindern

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Das nunmehr rechtskräftige Urteil zu Schmerzensgeldzahlungen des Erzbistums Köln an einen von Missbrauch Betroffenen über 300.000 Euro setzt neue Maßstäbe. Was die Gerichtsentscheidung für die künftige Praxis der Anerkennungsleistungen bedeuten sollte, hat "Kirche-und-Leben.de" Johannes Norpoth gefragt. Er ist Sprecher des Betroffenen-Beirats der Deutschen Bischofskonferenz.

Herr Norpoth, zum ersten Mal hat ein Gericht entschieden, dass Betroffenen weitaus mehr gezahlt werden muss als bisher in kirchlicher Praxis. Wie bewerten Sie das Urteil?

Das Kölner Urteil ist für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt in der Kirche tatsächlich von besonderer Bedeutung, und das aus unterschiedlichen Gründen: Erstmals hat ein Gericht über Sexualstraftaten im Zivilverfahren, also über Schmerzensgeldforderungen entschieden. Ebenfalls erstmals hat ein deutsches Gericht definiert, dass die katholische Kirche die Haftung für Taten ihrer Priester übernehmen muss. Die Taktik, diese Verantwortung ausschließlich auf die Täter abzuwälzen, ist damit gescheitert. Das Gericht hat in seiner Entscheidung einen Schadensersatzrahmen definiert, der zeigt: Die bisherigen, freiwilligen Leistungen der katholischen Kirche liegen um ein Vielfaches unter dem, was das Gericht für notwendig erachtet. In dem Kölner Verfahren befindet das Gericht das Zwölffache dessen für angebracht, was die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) dem Kläger zugestanden hat. Das ist schon ein sehr deutliches Zeichen.

Welche Konsequenzen sollte das Urteil haben? 

Die Frage ist ja nicht, welche Konsequenzen das Urteil haben sollte, sondern vielmehr haben muss. Deutsche Bischofskonferenz (DBK) wie auch UKA weisen seit 2020 auf die Bindung an die Schmerzensgeldzahlungen deutscher Gerichte hin. Die Zahlungen aus dem Anerkennungssystem würden sich am oberen Rand der durch staatliche Gerichte zugesprochenen Beträge orientieren. In Anbetracht der Werte, die da bisher ausgekehrt werden - der größte Anteil der Bescheide weist Beträge unterhalb 25.000 Euro aus -, kommen einem da große Zweifel. Ungeachtet dessen: Mit dem Kölner Urteil liegt nun erstmals ein Referenzurteil vor. Die Entscheidungen der UKA haben sich an diesem zu orientieren. Das wiederum bedeutet: Die Auszahlungsbeträge müssen zwingend deutlich steigen. Das betrifft natürlich nicht nur zukünftige Entscheidungen, sondern auch alle Fälle, in denen die UKA bereits entschieden hat. Es wäre ein wichtiges und richtiges Zeichen, wenn die Bischöfe nun die Betroffenen aus ihren Bistümern umgehend darüber informieren und sie auf die Möglichkeit einer Neubewertung im UKA-Verfahren (nach § 12 der Verfahrensordnung) aufmerksam machen. Und das nicht erst in ein paar Monaten, sondern sofort.

Rechnen Sie mit mehr Klagen von Betroffenen?

Ein solches Verfahren bedeutet eine erhebliche Belastung für den jeweiligen Kläger. Das ist im Kölner Verfahren deutlich geworden, und das wird insbesondere in Traunstein (wo ein Betroffener einen Schmerzensgeldprozess gegen das Erzbistum München und Freising und den verstorbenen Papst Benedikt XVI. anstrengt, die Red.) deutlich, wo das Gericht in die Beweisaufnahme einsteigen wird. Es ist also zu hoffen, dass die Bischöfe es nicht auf eine Klagewelle ankommen lassen. Stattdessen sollten die Bischöfe besser das Kölner Urteil zum Anlass nehmen, auch über das UKA-Verfahren und hier insbesondere über die Auszahlungshöhen nachzudenken. Der Betroffenenbeirat bei der DBK hat in einer ersten Reaktion zum Urteil ja seine Gesprächsbereitschaft signalisiert und die Bischöfe aufgefordert, die im letzten Jahr durch die DBK abgebrochenen Gespräche zu diesem Thema wieder aufzunehmen. In den kommenden Wochen tagen der Ständige Rat und die Herbstvollversammlung. Die Bischöfe täten also gut daran, nun ihrer Verantwortung nachzukommen und gemeinsam mit Betroffenen das UKA-Verfahren so weiterzuentwickeln und anzupassen, dass es keine Klagewelle braucht. Nur die Bischöfe haben das UKA-Verfahren initiiert und mit einer Ordnung versehen. Und nur sie sind also in der Lage, genau diese Ordnung zum Wohle der Betroffenen in wenigen Wochen zu ändern. Nur sie können das und nur sie müssen letztlich auch die Konsequenzen tragen, die sich ergeben, wenn sie sich jetzt der aus dem Gerichtsurteil abzuleitenden Weiterentwicklung des UKA-Verfahrens entziehen und damit auch eine Klagewelle herausfordern. 

Immer wieder wird kritisiert, auch von Bistums-Beauftragten, dass die Entscheidungen der UKA intransparent bleiben, etwa weil keine Gründe für ihre Entscheidungen genannt werden. Welche Chance für Veränderungen sehen Sie?

Man muss schlicht feststellen, dass alle Kritikpunkte, die Betroffene seit Start des UKA-Verfahrens nahezu gebetsmühlenartig und weit vor Bistums-Beauftragten deutlich formuliert haben, eingetreten sind: Die UKA als Blackbox, in der Entscheidungen nicht im Ansatz nachvollziehbar sind. Eine Leistungspraxis, die das Wort Anerkennung nicht verdient, sondern vielfach eher als Vergabe von Almosen zu bezeichnen ist. Mit dem Kölner Urteil wird es ja noch unverständlicher, warum die Bischöfe 2019 nicht die Empfehlungen der eigenen Expertenkommission umgesetzt haben. Damals hatte die von der DBK selbst eingesetzte Kommission ja Entschädigungshöhen eingefordert, wie sie das Kölner Gericht jetzt ausgeurteilt hat. Nach all den Diskussionen in den vergangenen Jahren will ich daher gar nicht mehr von Chancen reden. Die Bischöfe haben das Heft des Handelns in der Hand, und das Kölner Landgericht hat ihnen deutlich ins Gebetbuch geschrieben: Das, was ihr bisher macht, reicht um ein Vielfaches nicht aus. Die Bischöfe können die Verfahrensordnung so ändern, dass Intransparenzen und das völlig unzulängliche Leistungsgeschehen ein Ende haben. Sie müssen es einfach nur tun - aber das sehr schnell!

Recherche-Hinweis
"Kirche-und-Leben.de" hat auch die Deutsche Bischofskonferenz um ein Interview mit deren Missbrauchs-Beauftragtem, dem Aachener Bischof Helmut Dieser, zum Schmerzensgeld-Urteil von Köln gebeten. Die dortige Pressestelle verwies auf Äußerungen dazu nach Bekanntwerden des Urteils im Juni 2023. Damals hatte Dieser erklärt, die Kirche wolle "unverändert an dem niedrigschwelligen UKA-Verfahren" festhalten. Jeder Betroffene habe das Recht, den Klageweg zu beschreiten. Ferner äußerte sich damals die Generalsekretärin der Bischofskonferenz, Beate Gilles. (mn)

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