Klaus Gaßner über Rechtsruck und Politikverdrossenheit

Ein selbstmörderisches Gemisch bedroht die Demokratie

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Als vor 75 Jahren das Grundgesetz verabschiedet wurde, steckte der jungen Demokratie noch der Schock des Nationalsozialismus in den Knochen. Heute ist sie erneut bedroht, fürchtet Klaus Gaßner im Gast-Kommentar.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Man muss diesen Satz mit Bedacht lesen und mit aufmerksamer Ruhe, dann lässt sich seine ganze Tiefe erspüren: In sechs Worten ist es den Verfassungsmüttern und -vätern gelungen, der deutschen Staatsordnung ein zutiefst menschliches Gesicht zu geben. Alles, was in den Grundgesetz-Artikeln nachfolgt, muss sich diesem Primat beugen.

1949 war es, dass in Deutschland dieser große Wurf einer Verfassungsgebung gelang, die zum Startschuss wurde für eine politische, soziale und wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Und just heute, genau ein halbes Jahrhundert später, scheint dieses weltoffene und intelligente Vertragswerk unter Druck wie nie zuvor. Dass allerorten Menschenmassen auf die Straße gehen, um gegen die Anfeindungen von Rechts zu demonstrieren, ist ein beruhigendes, ein ermutigendes Zeichen - aber auch ein zutiefst trauriges.

Ausbruch an Bürgersinn

Wer statt 50 gar 150 Jahre zurückschaut, der stößt auf eine wahre Volksbewegung in Deutschland, die Demokratie erst möglich gemacht hat: Die Jahre 1848/49 stehen für einen wahren Ausbruch an Bürgersinn, sie stehen für das Ende der Fürstenmacht, für den Beginn der Volkssouveränität.

Damals waren Menschen beseelt vom Geist der Demokratie, sie waren beseelt von der Idee der Selbstverantwortung, auch der Subsidiarität. Bürgervereine schossen aus dem Boden und Debattierclubs ebenso, in denen sich Menschen um die „polis“ mühten, um das gedeihliche Zusammenleben von Menschen in einem Staat. Auch wenn der demokratische Aufbruch von preußischen Truppen niederkartätscht wurde, er ist der Beginn der Demokratie in Deutschland.

Volkssport “Politiker schmähen” 

Der Autor
Klaus Gaßner ist Chefredakteur des Konradsblatts, der Wochenzeitung des Erzbistums Freiburg.

Wo ist sie hin, die Begeisterung für Politik? Die Überzeugung, dass der Staat eine „öffentliche Sache“ ist? Die Einsicht, dass das Gemeinwesen von Jedermanns Engagement lebt? Dürftige Wahlbeteiligung und grassierende Unlust, Ämter zu übernehmen, paaren sich mit einem wahren Volkssport, Politiker zu schmähen und Parteien verächtlich zu machen.

Es mag viele Gründe geben, die diesem selbstmörderischen Gemisch den Boden bereitet haben. Die Verrechtlichung der Politik, die Komplexität der Herausforderungen, sie fordern ein Mindestmaß an politischer Meinungsbildung; das ist beschwerlich und scheint sich mit dem dank demokratischer Strukturen kultivierten Lebensstil immer weniger zu vertragen. Ihre hohe Qualität entführt der Demokratie geradezu das eigene Lebenselixier. Ein furchtbarer Gedanke.

Er führt zurück ins Jahr 1849, als Menschen ihr Leben für die Demokratie gaben. Und zurück ins Jahr 1949, als Verfassungsväter die Menschen mit ihrer ganzen Würde in den Mittelpunkt rückten. Sie allein können den Teufelskreis stoppen.

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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