Chefredakteur Markus Nolte zur neuen Enzyklika von Papst Franziskus

„Fratelli tutti“: Dieser Weckruf muss seine Relevanz noch beweisen

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Die neue Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus ist ein Weckruf auch an die Weltpolitik und kommt genau zu rechten Zeit. Ob er allerdings gehört wird, hängt zu einem großen Teil von der Kirche selbst ab, sagt Chefredakteur Markus Nolte in seinem Kommentar.

Wenn ein US-Präsident, der lange laut die Gefahr von Corona leugnete, seine eigene Infektion bekannt gibt und eine Diskussion darüber entsteht, ob man ihm das glauben kann oder was er damit bezwecken mag – dann ist der Krankheitszustand politischer Kultur kaum besser zu greifen.

Dass Papst Franziskus in genau diesen Tagen seine neue Enzyk­lika „Fratelli tutti“ veröffentlicht, hat gleichwohl nichts mit der Trumpschen Selbstinszenierung zu tun, auch wenn das Timing besser nicht hätte sein können. Vielmehr bindet sich Papst Franziskus zurück an eine wahrlich bewährte Kultur, zu deren Grundleger der heilige Franz von Assisi gehört. An dessen Gedenktag erscheint die neue Enzyklika. Das ist im Wortsinn fundierte Politik.

„Fratelli tutti“ ist der Versuch, die Entwicklungen der letzten Jahre anzuprangern und wieder einzuholen: die eines überwunden geglaubten Egoismus der Staaten und der Personen, der bislang als unsagbar Gedachtes längst nicht nur denkt, sondern ungehemmt ausspricht, der Flüchtlingen dreist ihre Würde abspricht, andere Meinungen barsch diskreditiert, Lügen zum Regierungsmittel macht und Populismus zur Politik. Der Menschen tötet.

 

Weltgewissen ohne Absolutheitsanspruch

 

Franziskus entlarvt diese eitrige Beule wachsender Teile der Weltpolitik – und setzt dagegen seinen Weckruf an die tiefe Verbundenheit der Menschheit, in der alle in Würde leben können.

In dieser Hinsicht ist der Papst endlich wieder ernstzunehmendes Weltgewissen von großer Relevanz. Allerdings eines, das sich nicht aus einem angstbesetzten, römisch-katholischen Absolutheitsanspruch speist, wie ihn durchaus auch manche Katholikinnen und Katholiken reklamieren, sondern aus der tiefen Weisheit auch anderer Religionen und Weltanschauungen.

 

Geschwisterlichkeit in der Kirche?

 

Erstmals zitiert ein Papst in einer Enzyklika einen hohen islamischen Geistlichen, einen hinduistischen Politiker, einen US-amerikanisch-protestantischen Pastor, Bürgerrechtler und Märtyrer. Franziskus spricht mit der prophetischen Stimme der Menschheit in die Herzen der Menschheit.

Allerdings: Ob seine Botschaft als so relevant angenommen wird, wie es ihr gebührte, hängt sehr davon ab, wie Geschwisterlichkeit, Macht und Verantwortung, Respekt vor der Würde der und des Anderen zuallererst in der Kirche gelebt werden.

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