Themenwoche „Vergessene Konflikte“ (1) - Nordirak

Jesidin Azdhar Ali flüchtete vor dem IS-Terror - Wunden sitzen tief

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Azdhar Ali floh als Kind vor dem IS-Terror. Die heute 18-jährige Jesidin blickt immer noch entsetzt auf die Grausamkeit der damaligen Tage und ihre Flucht zurück.

Ich konnte noch nicht verstehen, was geschah, als die Terroristen des Islamischen Staats (IS) 2014 in unser Dorf im Sindschar-Gebirge im Norden des Iraks einfielen. Ich war gerade mal neun Jahre alt, ging zur Schule, die Sommerferien standen an. Die Unruhe und Angst in meiner Familie spürte ich. Doch Vertreibung, Morden, Vergewaltigung und Folter waren außerhalb meiner kindlichen Vorstellungskraft. Wir flohen in die Berge, lebten lange in Zelt-Camps in Kurdistan.

Das ganze Ausmaß wurde mir erst bewusst, als ich in Deutschland ankam. Das war 2017, nach vielen weiteren Stationen mit meiner Familie in Flüchtlingslagern in der Türkei und Griechenland. Mit zwölf Jahren konnte ich langsam realisieren, mit welcher Brutalität mein Volk überfallen worden war. Auch weil das Grauen mit Schicksalen in meiner Familie nah an mich heranrückte. Eine Cousine hat sich nach den Erlebnissen während des Terrors erhängt, ein Onkel wurde von einer Mine getötet. Es gibt viele Tausende solcher Schicksale in meinem Volk.

Überfall hinterlässt tiefe Wunden

Themenwoche: Vergessene Konflikte
Am 24. Februar 2022 marschierte Russland in der Ukraine ein – und stürzte mindestens Europa in eine der schwersten Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg. Ab dem 7. Oktober 2023 verschärfte sich die Gefahrenlage mit den Terror-Attacken der Hamas auf Israel. So fürchterlich diese Kriege sind – sie lassen andere brutale Konflikte aus dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit verschwinden. Kirche+Leben holt sie zurück in den Fokus.

Das alles hat tiefe Wunden hinterlassen – bei mir, wie bei allen anderen Jesiden. Sie können nicht heilen, weil sie immer wieder aufgerissen werden. Zum Jahrestag des Überfalls oder bei Berichten von der Öffnung von Massengräbern kommt alles wieder hoch. Meine Heimat hat noch lange keinen Frieden wiedergefunden. Zu spürbar sind noch die Folgen. Die Infrastruktur ist immer noch zerstört. Die Menschen traumatisiert. Die Täter laufen noch frei rum. Und die Bomben und Minen sind noch nicht entschärft.

Die Welt darf nicht wegsehen, so wie sie 2014 weggesehen hat. Die Flüchtlingshilfen und die Anerkennung des IS-Terrors als Völkermord waren gute Zeichen. Aber noch immer sind tausende Mädchen verschleppt, noch immer kannst du den Mördern auf der Straße begegnen, noch sind viele Jesiden auf der Flucht. Und: Es werden immer noch Jesiden aus Deutschland in diese gefährliche Situation abgeschoben. Ich mache gerade in Bochum mein Abitur, will Internationales Recht studieren und Anwältin werden. Vielleicht kann ich dann helfen, dass unser Volk in seiner Heimat wieder seine Traditionen leben kann.

Worum geht es in diesem Konflikt?
Jesiden sind eine religiöse Minderheit unter den Kurden. Die monotheistische Religionsgemeinschaft mit weltweit mehreren hunderttausend Mitgliedern lebt vor allem im nördlichen Irak. In der dortigen Sindschar-Region wurden sie am 3. August 2014 von Terroristen des Islamischen Staats (IS) überfallen, wohin sich tausende Jesiden vor der Verfolgung durch die Terrormiliz geflüchtet hatten. Sie wurden eingekesselt, getötet und entführt. Viele flüchteten aus der Kriegsregion und leben heute im Ausland oder immer noch in Flüchtlings-Camps der angrenzenden Staaten. 2023 beschloss der Bundestag, die Ermordung von etwa 5000 Jesiden sowie die Verschleppung von 7000 weiteren als Völkermord anzuerkennen.

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