Warendorfer Kreisdechant im Interview: Was hat sich in der Krise verändert?

Lenfers: Corona ist Teilchenbeschleuniger für Kirchen-Reformen

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Corona hat in der Kirche vieles in Bewegung gebracht, das unverrückbar schien. Nicht nur bei Entscheidungen waren maximale Flexibilität und kurzfristige Reaktion gefragt. Kreisdechant Peter Lenfers aus Warendorf beschreibt im Interview mit „Kirche-und-Leben.de“ seine Erfahrung: Weil die Krise so abrupt und unveränderlich war und ist, könne sie auch etwas Heilsames für die Kirche haben.

Herr Lenfers, mehr als ein Jahr Corona-Krise – wie haben Sie das erlebt?

Es war und ist immer noch eine riesige Grenzerfahrung für die ganze Gesellschaft. Die meisten von uns haben noch nie erfahren, dass das Leben so aus den Fugen geraten kann. Diese Situation hatte für viele eine völlig neue Qualität und Intensität. Wir mussten neu lernen: Wie gehe ich mit Einschränkungen, Ängsten, mit einem ganz anderen Alltag um? Und wir sind noch lange nicht damit durch – da sollten wir nichts verklären.

Was hat die Pandemie persönlich mit Ihnen gemacht?

Wie fast alle bin ich langsam gar. Ich bin die Einschränkungen wirklich leid. Gerade der persönliche Kontakt fehlt mir enorm. Wir Menschen begegnen uns ja mittlerweile wie zwei Magnete, die sich mit dem Pluspol zu nahe kommen. Beim ersten Lockdown habe ich mir das noch schönreden wollen und habe ganz naiv gesagt, dass ich einfach ein paar Wochen Corona-Ferien mache. Es hat aber nicht lange gedauert, da wurde die Situation auch für mich eine persönliche Corona-Krise. Sie hat etwas von einem rasenden Stillstand. Ich sitze den ganzen Tag vor dem Rechner, habe kaum Live-Kontakte und rotiere trotzdem so, dass ich abends absolut platt bin.

Konnten sie das Leben in der Pfarrei nicht einfach runterfahren?

Es ging nicht darum, einmal kurz durchzuschnaufen, bis es unvermindert weitergeht. Wir mussten und wollten die Situation in der Pfarrei gestalten. Ich kenne durchaus Gemeinden, da ist das gesamte Seelsorgeteam abgetaucht, weil es vor dieser Herausforderung zurückschreckte. Der Trott, die lieb gewordenen Dinge, der alltägliche Rhythmus ist weggebrochen. Aus einer Überforderung, das neu zu gestalten, wurde einfach alles heruntergefahren.

Ein Vorwurf, den die Kirche in der Pandemie immer wieder gehört hat.

Das würde ich nicht so stehen lassen. Es gab viel Kreativität und Flexibilität. Allerdings hat sich die öffentliche Diskussion viel zu sehr auf die liturgischen Fragen beschränkt. Es wurde immer wieder diskutiert, wie Gottesdienste und Eucharistiefeiern zu organisieren sind, oder ob Live-Streams ein adäquater Ersatz zum Besuch der Kirche sein können. Für mich hat das zum Teil zu befremdlichen Situationen geführt, wenn Priester die Eucharistie allein gefeiert haben und meinten, damit gleichzeitig die anwesende Gemeinde zu repräsentieren. Das hatte etwas Vorkonziliares für mich.

Hätte auf Gottesdienste und Eucharistiefeiern verzichtet werden sollen?

Nein. Das bleibt unser Kerngeschehen. Gottesdienst zu feiern ist einer der Grundvollzüge der Kirche. Wir wollen wie seit 2.000 Jahren den Sonntag heiligen und die Eucharistie feiern. Mir wäre es aber lieber gewesen, uns bewusst zu machen, dass die Pandemie Fakten geschaffen hat, über die man nicht diskutieren kann. Es geht einfach vieles derzeit nicht, auch nicht in der Liturgie – Punkt. Dann schaffen wir in diesem Rahmen ein reduziertes Ersatzprogramm und bündeln unsere Kräfte in den Bereichen, in denen wir jetzt besonders stark sein können – nämlich, in der Caritas in innovativen Ideen Hilfe und Glauben zu den Menschen zu bringen. Es wurde mir einfach zu viel mit dem gehadert, was nicht geht, als auf das zu schauen, was gerade jetzt besonders gut geht.

Bindet die Organisation eines Gottesdienstes in Pandemiezeiten wirklich so viele Ressourcen?

Wir mussten anfangs erst einmal sortieren, was überhaupt möglich ist, wenn kein Stein mehr auf dem anderen steht. Das war ermüdend. Jede kleinste Kleinigkeit wurde plötzlich aufwändig, auch, weil sich die Vorgaben ständig veränderten. Viele Fragen stellten sich immer wieder neu: Wie viele Personen dürfen kommen? Wie und wo darf es musikalische Begleitung geben? Wie darf der Kommunion-Empfang aussehen? Ich hatte manchmal das Gefühl, wir organisieren eine Mahlgemeinschaft mit einer Ess-Störung. Der Regelungs-Aufwand blieb enorm und hatte manchmal nur eine Halbwertszeit von wenigen Tagen.

Dann sehnen Sie sich nach dem Tag, wenn alles wieder ist wie vor der Pandemie?

Eine Rückkehr zum Status Quo in der Zeit davor kann es nicht geben. Das wäre auch vollkommen unbiblisch. Schon bei Jesaja steht, dass wir nicht auf Altem beharren, sondern nach vorne schauen sollen. Die Krise hat vieles zutage befördert, bei dem es sich lohnt, weiter daran zu arbeiten. Wir haben den einen oder anderen toten Gaul entdeckt, auf dem wir nicht mehr weiterreiten sollten.

Was zum Beispiel?

Ganz praktisch: Die Gottesdienstordnung ist gerade in fusionierten Gemeinden ein heikles Thema. Die Sorge, dass wir die letzten fünf Teilnehmer auch noch vergraulen, wenn wir Angebote streichen, ist immer groß. Corona hat da einfach Fakten geschaffen. Die Angebote konnten in der bisherigen Form nicht aufrecht erhalten werden. Vielleicht haben die Menschen dabei erlebt, dass es auch mit Alternativen funktioniert. Dass für sie der Weg zu einer anderen Kirche zu einem anderen Zeitpunkt möglich ist. Oder er auch die Übertragung im Internet eine Alternative sein kann.

Corona als Wegbereiter für weniger Präsenzgottesdienste?

Für andere Formen von Gottesdiensten, für die dadurch Ressourcen frei werden. Das hat auch etwas mit einer neuen Partizipation an der Liturgie zu tun. Für mich war das ein neues Erleben von Leitung: Ich habe in den vergangenen Monaten noch einmal intensiv gelernt, dass ich bei der Fülle an außergewöhnlichen Anforderungen in der Krise noch viel mehr auf die Zusammenarbeit und Unterstützung der Gremien und Helfer in unserer Gemeinde angewiesen bin. Wir haben in unserem Krisenstab mit Mitgliedern aus dem Kirchenvorstand, aus dem Pfarreirat und aus der Verwaltung regelmäßig zusammengesessen, um zu planen und Aufgaben zu verteilen. Dabei ging es eben nicht nur um Dinge wie Öffnungszeiten, sondern auch um liturgische Angebote. Der Input für die Gestaltung von Gottesdiensten war dadurch noch einmal höher als zuvor.

Wie hat sich das auf die Liturgie ausgewirkt?

Diesen Gottesdiensten ist anzumerken, dass sie nicht dem Liturgie-Plan eines Einzelnen entspringen, sondern ein Gemeinschaftsergebnis sind. Wir haben uns über Inhalte ausgetauscht, die Texte der Gottesdienste gemeinsam angeschaut. Daraus entstanden Impulse für die Predigten. Wir haben auch die Rollen noch einmal anders verteilt – die Lektoren waren eingebunden in die Kyrie-Rufe, haben Fürbitten selbst formuliert, oder wir haben den Segen im Wechsel gesprochen. Auch die liturgische Kleidung wurde zum Thema. Wir haben das Tragen von Taufschals angeboten – dem Lektor wie dem Corona-Ordner an der Tür. Das Rad ist damit sicher nicht neu erfunden worden, aber wir haben neue Wege gefunden, auf denen es sich lohnt weiterzugehen.

Gibt es andere Beispiele für Veränderungen durch Corona in Ihrer Pfarrei?

Wir haben hier in Warendorf zwei historische Hungertücher. Die sind in der Fastenzeit eigentlich gesetzt, auch, weil sie vor einigen Jahren aufwändig restauriert wurden. In der Corona-Zeit hatten wir aber ein außergewöhnliches modernes Bild, das diesjährige Misereor-Hungertuch, das auf der Grundlage eines Röntgenbildes eines Fußes geschaffen worden war. Wir haben deshalb beschlossen, die historischen Tücher in diesem Jahr nicht aufzuhängen, sondern das aktuelle Tuch bewusst in der Liturgie zu thematisieren. Von diesen kleinen Wegen, neu zu denken, gibt es viele.

Und das alles hat nur Corona angestoßen?

Es gab auch schon vorher viele neue und gute Ansätze. Wir waren in Fragen von Leitung, Partizipation oder Organisation oft auf den richtigen Wegen unterwegs. Die Pandemie aber hat in vielen Bereichen wie ein Teilchenbeschleuniger gewirkt. Sie hat uns einen Schub gegeben. Es war nicht mehr eine Frage des Prinzips, ob mit Traditionen gebrochen werden darf oder nicht. Weil die Unterbrechung durch die Pandemie so abrupt und massiv war, war sie gleichsam auch heilsam. Wir konnten Ideen äußern, ohne gleich einen Sturm der Entrüstung auszulösen. Wenn Gewohnheit nicht mehr möglich ist, verliert sich auch das Unbehagen gegenüber Neuem.

Kreisdechant Peter Lenfers ist Pfarrer in St. Laurentius Warendorf. Sein Seelsorgeteam und die Helfer seiner Pfarrei haben im vergangenen Jahr mit vielen Angeboten auf die Corona-Situation reagiert. Dazu gehörten das Aufhängen von Sinn- und Bibelsprüchen im Advent vor der St.-Laurentius-Kirche, ein Ersatzprogramm für das ausgefallene Traditionsfest zu Mariä Himmelfahrt oder die Unterstützung des Hilfsprogramms „Warendorfer helfen Warendorfern“.

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