Bischof Overbeck: Missbrauch ist ein systemisches Problem der Kirche

Missbrauch im Bistum Essen: 423 Fälle und 201 Beschuldigte

  • Die Studie zu sexualisierter Gewalt im Bistum Essen ist vorgestellt worden.
  • Mindestens 423 Fälle und 201 Beschuldigte zwischen 1958 und 2023 sind bekannt.
  • Bischof Franz-Josef Overbeck sieht systemische Ursachen in der Kirche.

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Das Bistum Essen verzeichnet wesentlich mehr Betroffene sexualisierter Gewalt und Täter als bisher bekannt. Seit seiner Gründung vor 65 Jahren gibt es mindestens 423 Fälle und Verdachtsfälle. Die Zahlen mit Stand Februar 2023 legte das Ruhrbistum bei der Vorstellung einer Aufarbeitungsstudie vor. Danach sind insgesamt 201 Personen beschuldigt, darunter 129 Geistliche und 19 Ordensfrauen. 2018 verzeichnete eine andere Studie für die Essener Diözese nur 60 beschuldigte Geistliche und 85 Betroffene seit Gründung.

Das Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP), das Zahlen bis Oktober 2021 erfasste, kommt auf 190 Beschuldigte und 226 Betroffene. 120 stellten einen Antrag auf Zahlung in Anerkennung des Leids. Rund ein Viertel der Betroffenen ist weiblich.

"Bis 2010 unzureichende Reaktionen des Bistums"

Das IPP in München führte die sozialwissenschaftliche Untersuchung in Kooperation mit dem Institut für Bildung und Forschung "Dissens" aus Berlin im Auftrag der Diözese durch. Die Forschenden werteten in den vergangenen drei Jahren Personal- und Geheimakten des 1958 gegründeten Bistums Essen aus. Zudem führten sie Interviews etwa mit Betroffenen und veranstalteten Gruppendiskussionen in Gemeinden.

Helga Dill (IPP) und Malte Täubrich (Dissens) führten aus, das Ruhrbistum habe bis 2010 unzureichend oder gar nicht auf Verdachtsfälle reagiert. Wegen dieser mangelnden Verantwortungsübernahme und der Versetzung von Tätern sei die sexualisierte Gewalt nicht gestoppt worden und die Zahl der Betroffenen gestiegen. Es seien keine Bemühungen des Bistums festzustellen, Betroffene zu unterstützen oder ausfindig zu machen.

"Gemeinden solidarisierten sich mit den Tätern"

Auch die betroffenen Pfarreien hätten die Fälle oft verdrängt und sich mit den Tätern solidarisiert, so Dill. Es sei "etwas Spezifisches" der katholischen Kirche, den Pfarrer als geweihten Mann zu idealisieren: "Dieses Moment untergräbt letztlich auch die kritische Urteilsbildung der Gemeindemitglieder."

Betroffene seien sozial ausgegrenzt und ihr Leid auch seitens der Gemeinde geleugnet worden. Täubrich sprach zudem von einem "Informationsvakuum" - Bistumsverantwortliche hätten die Gemeinden oft im Unwissen gehalten.

Hartes Durchgreifen ab 2010

Ab 2010 sei dann ein hartes Durchgreifen gegenüber den mittlerweile betagten Tätern zu erkennen, worin die Forschenden den Ausdruck eines institutionellen Schuldgefühls sehen. Ein Konzept für den Umgang mit straffälligen Klerikern fehle aber.

2010 wurde der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche durch aufgedeckte Vorfälle am Canisius-Kolleg in Berlin wesentlich bekannt. Ende 2009 trat der aktuelle Bischof Franz-Josef Overbeck sein Amt in Essen an, sein Vorgänger war der heutige Bischof von Münster, Felix Genn.

Overbeck: Nicht nur die Schuld der einzelnen Täter


Bischof Franz-Josef Overbeck verwies auf systemische Ursachen des Missbrauchs in der Kirche. | Archivfoto: Michael Bönte

Overbeck zeigte sich in einer ersten Reaktion selbstkritisch mit Blick auf die Institution Kiche: Es sei viel vertuscht und kleingeredet worden. Die Bischöfe hätten nicht nur Betroffene vernachlässigt, sondern auch Gemeinden allein gelassen. Missbrauch sei nicht nur Schuld der einzelnen Täter, sondern auch ein systemisches Problem der Kirche. Nun gelte es, "sich ehrlich zu machen" und die Aufarbeitung professioneller aufzustellen.

Generalvikar Klaus Pfeffer forderte, die Glorifizierung des Ruhrbistums zu beenden, das immer wegen seiner angeblichen Bodenständigkeit idealisiert worden sei. Gerade die Zeit unter dem ersten Bischof, Kardinal Franz Hengsbach, weise die meisten Meldungen an Missbrauchsfällen auf. Hengsbach stand der Diözese von 1958 bis 1991 vor.

(13 Uhr: Artikel erweitert u.a. um Reaktionen Overbeck und Pfeffer.)

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