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Jörg Meyrer, Pfarrer von Bad Neuenahr-Ahrweiler, ist zu einer Art "katholischem Gesicht" der Flutkatastrophe geworden, die vor einem Jahr über den Westen Deutschlands hereinbrach; er hat auch ein Buch darüber geschrieben. Im Interview berichtet er von der Flutnacht und dem Jahr danach.
Pfarrer Meyrer, heute vor einem Jahr brach sich das Hochwasser Bahn. Welche Erinnerungen kommen bei ihnen hoch?
Sehr viele. Am Abend habe ich bei der Feuerwehr geholfen. In der Nacht war an Schlafen nicht zu denken. Auch ins Pfarrhaus kam das Wasser, aber nicht sehr hoch. Als die Sonne dann aufging, habe ich zum ersten Mal den ganzen Dreck und die ersten verheerenden Schäden gesehen. Ich habe Menschen in den Arm genommen und versucht zu trösten. Und wir alle haben das ganze Ausmaß überhaupt noch nicht verstanden. Am Tag dann habe ich beim Roten Kreuz mitgeholfen, die Leute in Empfang zu nehmen, die eingesammelt wurden, nachdem sie weggespült worden waren. Viele wussten nicht, wo ihre Lieben sind. Manchen reichte es schon, mein Handy benutzen zu können, weil das noch ging und sie ihres verloren hatten in der Nacht. Aber ich habe unter anderem auch einen jungen Mann trösten müssen, der seine Freundin verloren hatte, die die Nacht nicht überlebt hat. Natürlich sind die Bilder alle noch da, die Gespräche, die Begegnungen. Das brennt sich ins Herz, das geht nicht mehr weg.
Wie haben Sie gebetet am Anfang? Ist das schwierig, auch als Priester? Haben Sie gezweifelt an einem Gott, der so etwas zulassen kann?
Gezweifelt nicht in dem Sinne. Ich hatte keine Sprache mehr. Alles, was ich sonst gebetet habe - die Psalmen oder das "Vater unser, Dein Wille geschehe" - das ging nicht. Aber gehadert habe ich eigentlich nicht. Wobei ich gut verstehen kann, dass man mit Gott hadert in so einer Situation.
Wie hat sich das weiter entwickelt?
Die Worte kamen irgendwann wieder, das hat aber eine ganze Weile gedauert. Und da haben mir auch liebe Menschen dabei geholfen, indem sie mit mir gebetet haben und für mich gebetet haben, für uns gebetet haben. Natürlich konnten wir auch mit den anderen Kolleginnen und Kollegen zusammen Trost spenden und den Menschen helfen.
Wie konkret?
Nicht mit frommen Sprüchen. Zuerst einfach dadurch, dass wir da waren. Da waren manchmal Umarmungen wichtig und vor allem das Zuhören bei den Flutnacht-Geschichten der Leute. Zuhören und da sein - das war wichtig und ist es bis heute.
Wie hat sich das Gemeindeleben in dieser Zeit geändert?
Das Buch von Pfarrer Jörg Meyrer, „Zusammenhalten. Als Seelsorger im Ahrtal“ (256 Seiten, 20 Euro, Bonifatius Verlag), ist bei unserem Partner Dialogversand online oder telefonisch unter 0251/4839-210 bestellbar.
Zunächst mal gab es ja eigentlich schon kein klassisches Gemeindeleben mehr durch Corona. Und dann waren bei uns auf einen Schlag alle Strukturen weg: etwa Strom, Wasser und etliche Gebäude - und noch schlimmer: viele Menschen. Doch weil das Bedürfnis bei vielen da war, haben wir doch irgendwie und irgendwo Gottesdienst gefeiert an jedem Sonntag. Wir wollten für die Menschen da sein - auch mal mit kleinen Gedenkfeiern, mit Glockenläuten, mit der Möglichkeit, eine Kerze anzuzünden, auch wenn die Kirche nicht mehr da war. Es waren die kleinen Zeichen, die Seelsorge ausgemacht haben. Bis zu einer auch nur einigermaßen so zu nennenden Normalität ist der Weg noch sehr, sehr weit.
Wie schwierig war das Trauern, zumal ja zum Teil auch Friedhöfe kaputt und Gräber weggespült waren?
Ich glaube, es war lange gar kein Platz für Trauer. Schon allein, weil es so gigantisch groß war und immer noch ist, was wir verloren haben. Seien es Menschen, die ja unter dramatischsten Umständen gestorben sind, sei es alles Hab und Gut oder eben auch unsere Heimat, die zerstört ist. Das haben noch immer nicht alle realisiert, was wir alles verloren haben. Wir haben auch erst ganz spät angefangen, die Flutopfer zu beerdigen. Trauer ist ein Prozess, der Kraft braucht. Die muss man erst mal haben. Und die haben immer noch nicht alle.
Wie sehr hat Sie das Jahr nach dem Hochwasser verändert?
Es hat mich an Grenzen gebracht und bringt mich noch an Grenzen - meiner Kraft, meiner Fähigkeiten, auch meines Glaubens. Immer wieder. Verändert hat mich auch, entschieden Ja zu sagen zu meinem Auftrag.
Zu welchem Auftrag?
Hier bleiben, bei den Menschen sein, zuhören - und mithelfen, dass unsere Heimat wieder aufgebaut wird.
Auch die Pfarrei?
Keine einfache Frage! Da gibt es mehrere Aspekte: Es wird ja nichts mehr wie vorher - und das gilt für alle Pfarreien: Schon wegen Corona. Dann die Situation der Kirche insgesamt: Missbrauch, die Vorgänge in Köln, Vertrauenskrise und und und. Darunter leiden ja alle. Bei uns kommt noch was dazu: Wir haben ganz viele zerstörte Gebäude und müssen überlegen, was wir damit machen. Aufbauen wie zuvor? Da war ja auch nicht immer alles ideal und gut. Oder gehen wir ganz bewusst neue Wege? Hin zu einer Art neuen Kirche, wie ich mir sie für ganz Deutschland vorstelle - die näher bei den Menschen ist und mehr auf Mobiles setzt als auf Immobilien.
Was gibt ihnen Hoffnung für die Menschen im Ahrtal?
Wir werden darüber wegkommen, weil Menschen immer über alles weggekommen sind. Die Kraft in uns Menschen ist gigantisch groß, mit Schwierigkeiten zu leben, das sieht man an persönlichen Schicksalen. Das sieht man auch an gemeinschaftlichen Katastrophen, die erlebt und durchlebt wurden. Wir bauen unser Tal wieder auf, das ist überhaupt keine Frage für mich. Das werden wir schaffen! Und wir werden - so viel Kraft es uns auch kostet - diese Kraft investieren. Die Kraft des Lebens ist ja ungeheuer stark. Und ich bin überzeugt, dass wir das als Glaubende mit noch größerer Überzeugung darauf vertrauen dürfen!