WDR-Journalist Arnd Henze über die überraschende Aktualität der Musik

Dissonanter Friede – und was Bachs Weihnachtsoratorium damit zu tun hat

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„Jauchzet, frohlocket!“ - mit diesen Worten beginnt das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Doch kann man da einstimmen angesichts der Kriege etwa im Nahen Osten und der Ukraine? Arnd Henze hat es getan und in den Tiefen des Oratoriums überraschend aktuelle Entdeckungen gemacht.

Am ersten Advent konnte ich zum ersten Mal seit 34 Jahren wieder Bachs Weihnachtsoratorium mitsingen. Dabei fiel es mir gar nicht so leicht, in das strahlende „Jauchzet, frohlocket!“ einzustimmen. Wie auch, wenn in den Proben das Smartphone ständig vibrierte, weil aus Israel und dem Gazastreifen wieder neue Schreckensnachrichten kamen?

Einmal musste ich mich sogar für ein Telefonat aufs Klo zurückziehen, weil eine "Fake News" der Hamas fast den Weg in eine kirchliche Stellungnahme gefunden hätte. 

Als habe Bach es geahnt

Als ich auf meinen Platz im Bass zurückkam, waren wir gerade beim Engelschor der zweiten Kantate: Und der Übergang vom triumphierenden „Ehre sei Gott in der Höhe“ zum schmerzlich-leisen „Und Friede auf Erden“ hat mich tatsächlich geflasht.

Dieser plötzliche Wechsel vom kraftvollen H-Dur in spannungsvolle Dissonanzen, bei denen sich die Stimmen in absteigenden Sekund-Schritten klagend aneinander reiben. Gottes Friedenszusage, die sich an der unfriedlichen Welt bricht – als habe Bach geahnt, dass alles andere im Advent 2023 nur hohl und zynisch klingen würde.

Kriege schienen weit weg

Der Autor
Arnd Henze beschäftigt sich als Fernsehjournalist beim WDR seit vielen Jahren vor allem mit internationalen Krisen und Konflikten. Er ist Mitglied der EKD-Synode und Autor des Buches „Kann Kirche Demokratie?“

Vor 34 Jahren ist diese kompositorische Spannung an mir vorbei gegangen. Das waren die Jahre der Abrüstungsverträge, der friedlichen Revolutionen in Osteuropa am Ende des Kalten Krieges. Über die Dissonanzen konnten wir damals hoffnungsfroh hinwegsingen.

Es lagen die Jahre vor uns, in denen eine Friedensarchitektur entstand, die zumindest uns in Mitteleuropa beispiellos unbeschwerte Jahrzehnte geschenkt hat. Kriege erschienen weit weg, kamen uns nur über die Flüchtlinge aus dem Balkan und später aus Syrien nahe.

Gewöhnung an den Krieg?

Für viele war der 24. Februar 2022, der Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, deshalb die Vertreibung aus einem Paradies. Inzwischen ist der Schock über diese Zeitenwende einer Gewöhnung an Krieg als allgegenwärtige Realität gewichen.

Das Erschrecken über den barbarischen Terror der Hamas hat nach dem 7. Oktober 2023 nur noch wenige auf die Straße gebracht. Stattdessen fordert der Bundesverteidigungsminister, nicht nur die Bundeswehr, sondern die ganze Gesellschaft müsse in Zukunft „kriegstauglich“ werden.

Musik schafft, was mit Worten kaum gelingt

Vielleicht haben wir in der Vergangenheit die Zeichen der Zeit zu lange übersehen, weil wir den Krieg in Europa für so undenkbar hielten, dass wir ihm nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Heute ist es der Frieden, der so undenkbar zu werden droht, dass wir uns am Ende nur noch in der Logik tödlicher Konfrontation einrichten können.

„Und Frie-ie-ie-de auf Erden!“ Ausgerechnet im Weihnachtsoratorium kann das ganze Wüten der Welt in diese dissonante Hoffnung gelegt werden – weil Bach mit wenigen Takten schafft, was mit Worten kaum noch gelingt: den Blick für die Realität des Unfriedens und die Sehnsucht nach Frieden zusammen zu halten. Beides brauchen wir heute dringender denn je.

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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