Wenn Therapien und Betreuung wegfallen, ist der Alltag kaum zu schaffen

Familien mit behinderten Kindern geht im Lockdown die Luft aus

  • Die Belastung von Familien im Lockdown ist groß - was aber geschieht in Familien mit Kindern mit Behinderung?
  • Mathis und Carolin Grambke aus Damme müssen seit geraumer Zeit auf viele Therapien und Betreuungsangebote verzichten.
  • Die fehlenden Alltagsstrukturen hinterlassen bei den beiden Kindern mit Behinderung Spuren.

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Vielen Familien setzt die Pandemie extrem zu: Durch Lockdown-Maßnahmen, Schul-Schließungen und Home-Schooling sind Alltagsstrukturen und -rhythmen komplett aufgebrochen. Aufgaben und Rollen müssen neu verteilt, Arbeitszeiten der Eltern abgestimmt werden. Und zwischen Herd, Schreibtisch, Hausaufgaben-Hilfe und Online-Konferenz müssen Mama und Papa so manche Träne des Nachwuchses trocknen.

Wie aber geht es Familien mit Kindern, die Behinderungen haben? Bei ihnen fallen eine Vielzahl an Betreuungs-, Therapie- und Beschäftigungsmöglichkeiten weg. Zudem trifft es gerade Kinder mit einer geistigen Behinderung besonders stark, wenn sie auf gewohnte Alltagsabläufe verzichten müssen. Die Situation daheim ist kaum aufzufangen – eine Alternative gibt es aber nicht.

 

Mammutaufgabe an der Belastungsgrenze

 

Familie Grambke aus Damme stellt sich seit etwa einem Jahr dieser Mammutaufgabe – mal mehr, mal weniger, je nach den verordneten Corona-Schutzmaßnahmen. Von ihren drei Kindern haben zwei eine geistige Behinderung und Autismus.

„Bei Mathis und Carolin ist der Pflegeaufwand enorm“, sagt Bianca Grambke. „Meine Kinder benötigen bei fast allem Unterstützung – beim Anziehen, beim Essen, bei der Körperpflege...“ Was in normalen Zeiten oft schon bis an die Belastungsgrenze führt, reicht in Corona-Zeiten darüber hinaus. Die Förderschulen können sie nur zeitweise besuchen, alle außerschulischen Therapien und Betreuungsangebote fallen weg.

Heißt: Die 12-Jährige und der 13-Jährige sind vermehrt daheim. Ihre Mutter, Vater Ulrich und die 13-jährige Schwester Melissa sind dann die einzigen Bezugspersonen. Der Zeitaufwand aber übersteigt für alle ihre Möglichkeiten. Die Eltern sind beide berufstätig, Melissa sitzt im Home-Schooling und bekommt nicht wenige Hausaufgaben auf.

 

Zwei Fulltime-Jobs

 

„Wir haben quasi jeder noch einen Fulltime-Job hinzubekommen“, sagt Ulrich Grambke. Wenn ihre Arbeitgeber ihnen keine flexible Arbeitszeit ermöglichen würden, wären sie in der Bewältigung der Situation chancenlos. Aber auch jetzt sitzt Bianca Grambke oft bis spät abends am Schreibtisch und erledigt ihre Aufgaben als Buchhalterin, wenn ihre Kinder im Bett sind.

Reittherapie, Ergotherapie, Logopädie, nachmittägliche Zeiten mit einer Betreuerin – all das findet für ihre Kinder mit Behinderung derzeit nur sehr reduziert oder gar nicht statt. „Gerade für Mathis bedeutet das viel leere Zeit, da er sich nicht allein beschäftigen kann“, sagt die Mutter. „Ihm ist es nicht möglich, aus eigener Initiative zu spielen oder einfach nur im Alltag mitzulaufen.“

Die Medienzeit erhöhen, wie das bei anderen Kindern derzeit häufig passiert, geht bei Mathis nicht. „Da zeigt er kein Interesse.“ Die Folge ist, dass er manchmal längere Zeit in seinem Bälle-Bad sitzt, wenn andere Dinge im Haus erledigt werden müssen. „Das tut einer Mutter natürlich im Herzen weh.“

 

Es hinterlässt Spuren bei den Kindern

 

Denn sie merkt, was die fehlenden Beschäftigungs- und Therapie-Möglichkeiten für Spuren hinterlassen. „Mathis wird dann unruhig, ist mit sich selbst nicht zufrieden.“ Mit seiner Betreuerin hatte er lange Zeit geübt, selbstständig ein Brötchen zu bestellen. Die Fähigkeit hat er mittlerweile wieder verloren. Auch die Lehrerin von Carolin hat bereits zurückgemeldet, dass die Zwölfjährige Auffälligkeiten zeigt, weil ihr der regelmäßige Kontakt in der großen Klasse fehlt.

„Wir kommen langsam an unsere Kraftgrenze“, sagt Ulrich Grambke. „Wenn da nicht die Möglichkeit langer Spaziergänge oder Radtouren wäre, um den Akku aufzuladen, hätten wir diese Grenze längst überschritten.“

Umso mehr wünscht er sich, dass die außergewöhnliche Situation von Familien mit behinderten Kindern in der Pandemie mehr im Fokus stehen würde. Die eingeschränkte Öffnung der Förderschulen ist für ihn eine wichtige, aber nur kleine Hilfe. „Zum Beispiel bei der Impf-Reihenfolge oder bei Möglichkeiten von Freizeitgestaltungen sollte auf uns viel mehr Rücksicht genommen werden.“

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