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Am Frieden kommt keiner vorbei. In einem großen Kreis stehen etwa 50 Menschen auf dem Markt in der Ibbenbürener Innenstadt. Passanten müssen um sie herum gehen, Radfahrer bremsen und steigen ab. Die Menschen schweigen. Ein Mann in grüner Arbeitslatzhose mit Stahlkappenschuhen, zwei Damen in bunten Blazern, daneben eine Großmutter mit ihrem Teeni-Enkel, und - an diesem Tag besonders aufällig - Mitglieder der afghanischen Community. Schwarz-grün-rote Balken, die Farben der afghanischen Flagge, zieren Masken, Handrücken und Pappschilder: „Freiheit und Menschenwürde für Afghanistan“, „#free Afghanistan“, „Frauenrechte für Afghanistan“ steht auf Plakaten geschrieben.
Vor sieben Jahren hat Josef Bendfeld, 1973 bis 2012 Pastoralreferent in Ibbenbüren, das Treffen „Schweigen für den Frieden“ organisiert. Seitdem kommen sie, jeden Montag, für 20 Minuten mitten in der Stadt zusammen. 2014, als der aufkeimende Islamische Staat und die Ukraine-Krise die Gesellschaft bewegten, kamen 250 Menschen, seitdem immer wieder 20 bis 30, oder 150, so wie nach dem Terroranschlag 2015 in Paris.
Seit sechs Jahren die Familie nicht gesehen
Meist weiß Bendfeld erst kurz vor Beginn, wer überhaupt teilnimmt, „aber es kommen immer Menschen.“ Diesmal vor allem Bewohner und Freunde der Übergangsstation ZUE, der Zentralen Unterbringungseinrichtung der Bezirksregierung Münster, Standort Ibbenbüren. Hier warten Geflüchtete auf den Ausgang ihrer Asylanträge.
Ganz neu dabei ist Basir, 20 Jahre, aus Schweden. Eigentlich stammt er aus Afghanistan, von wo aus er sich aus im Alter von 14 Jahren bis nach Frankreich durchgeschlagen hat: „Meine Familie ist in Griechenland“, sagt er in fast akzentfreiem Englisch. Seit sechs Jahren hat er sie nicht gesehen. In Schweden hat er sein Abitur gemacht, eine Ausbildung in „Computerscience“ sagt Ingeborg Paul, die neben Basir steht.
Ob Basir bleiben kann?
Gemeinsam mit ihrem Mann Reinhard Paul, evangelischer Pfarrer im Ruhestand, engagiert sie sich in der Flüchtlingshilfe Ibbenbüren, die unter anderem von dem Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) koordiniert wird. „Donnerstag gehen wir zu einer Rechtsanwältin“, berichtet sie. Dort folge die Durchsicht der Papiere, erste Gespräche, ob Basir bleiben kann.
Der klammert sich mit weißer Faust an sein Pappschild, an den Unterarmen sind zahlreiche Schnitte zu sehen, Schnitte, die er sich in ausweglosen Situationen zugefügt hat, als zum zweiten Mal der Ablehnungsbescheid in Schweden eintraf. Die Zustände in seinem Herkunftsland rauben ihm den Schlaf, dazu leidet er an Morbus Chron, einer Darmerkrankung, trotzdem: „Ich bin glücklich, hier zu sein.“ Die nächsten 20 Minuten denkt er schweigend an die zehntausenden Afghanen, die um den Flughafen Kabul ausharren.
Was ändert das Schweigen?
In der Mitte leuchtet eine Kerze, die Bendfeld gemeinsam mit einem Mitstreiter aus einem Geschäft nebenan geholt hat. Dort lagert er auch die Schilder, zum Beispiel jenes, das er nun in die Höhe hält: „Schweigen für den Frieden.“
Ob sich etwas ändert, durch dieses Schweigen? „Wir fühlen uns verbunden. Wir können unserer Ohnmacht des Nichtstun-Könnes Raum geben“, meint Bendfeld nachdenklich. Als er 2014 erstmals in seinen beiden theologischen Gesprächskreisen, denen er im Ruhestand beigetreten war, von seiner Idee berichtete, stieß er auf Begeisterung, aber auch auf Kritik. Wäre es nicht sinnvoller, aktiv zu helfen statt zu schweigen?
„Auch das ist ein Weg“, meint der 74-Jährige. „Uns war wichtig, mit einem Zeichen in die Öffentlichkeit zu gehen“, betont Josef Bendfeld. Mit „uns“ meint er die fünf muslimischen Gemeinden der Stadt, die evangelischen Schwestergemeinden und die Parteien, denn regelmäßig nimmt auch der ein oder andere Politiker am Schweigen teil. Man könne zwar nicht auf großer politischer Ebene agieren, aber zusammenstehen, ein Bewusstsein schaffen für die Krisenherde: „Miteinander schweigen verbindet über Grenzen von Kulturen und Religionen hinweg“, hat Josef Bendfeld festgestellt.
Schweigen - daraus zieht er Kraft, fühlt sich persönlich erinnert an das Bibelwort, aus dem Buch der Könige, das von der Begegnung des Propheten Elija mit Gott handelt: „Der Herr war nicht im Sturm, der Herr war nicht im Erdbeben und im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln.“
Auf dem Markt ist es still. In der Mitte spielen nur drei kleine Mädchen, neben der Kerze.
Schweigen für den Frieden in Ibbenbüren
Wer teilnehmen möchte, hat dazu an jedem Montag, auch nach Ostern oder Pfingsten, die Gelegenheit: Einfach um 17.30 Uhr auf den Oberen Markt in Ibbenbüren kommen, sich dazustellen und das Geschehen auf sich wirken lassen – 20 Minuten lang. Dann folgt der Abschluss mit dem gemeinsam gesungenen Lied „Schweige und höre, neige deines Herzens Ohr, suche den Frieden!“ Einmal im Monat findet im Anschluss an das Schweige-Treffen eine Gesprächsrunde im evangelischen Gemeindehaus „Blick.punkt“ statt. Das nächste am 6. September.