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Die Missbrauchsstudie für die evangelische Kirche zeigt: Die Kirchen sind mit der Aufarbeitung überfordert, kommentiert ZDF-Journalist Jürgen Erbacher. Und benennt einen jahrelang ignorierten Skandal.
Die Zahlen sind erschütternd, dürften zugleich aber nur wenige überraschen: Die ForuM-Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland zeigt, dass auch bei der evangelischen Kirche mit Blick auf das Thema Missbrauch vieles im Argen liegt. Betroffene wurden nicht gehört, Prozesse zur Aufarbeitung liefen und laufen schleppend, „Verantwortungsdiffusion“ und „Verantwortungsdelegation“ behindern eine konsequente Aufarbeitung.
Es ist wichtig, dass mit der ForuM-Studie fünf Jahre nach der MHG-Studie der katholischen Kirche nun auch eine erste wissenschaftliche Forschung mit Blick auf die Evangelische Kirche in Deutschland vorliegt. Bei aller Kritik lassen beide Studien den Willen der Kirchen erkennen, sich der Vergangenheit und der Verantwortung zu stellen. Sie zeigen aber auch, dass die Kirchen allein eine konsequente Aufarbeitung nicht leisten können.
Keine Initiative aus der Politik
Der Autor
Jürgen Erbacher leitet die ZDF-Redaktion „Kirche und Leben katholisch“. Er studierte Katholische Theologie und Politikwissenschaft in Freiburg und Rom.
Einmal mehr wurde bei der Vorstellung der ForuM-Studie von Seiten der Betroffenen eine staatliche Aufarbeitung gefordert. Beide Kirchen zeigen sich offen dafür, doch von Seiten der Politik gibt es bisher keine Initiative.
Dabei gibt es viele nachvollziehbare Gründe für eine staatliche Aufarbeitung. Allein die Tatsache, dass die evangelische Kirche nach Aufkommen des Missbrauchsskandals 2010 in der katholischen Kirche zehn Jahre Zeit brauchte, um 2020 eine solche Studie in Auftrag zu geben, spricht Bände.
Staatliche Regelungen, die für alle gelten
Die unterschiedlichen Herangehensweisen der einzelnen Studien sowie der Bistümer und Landeskirchen bei der Aufarbeitung lassen einen Vergleich nicht zu. Es ist schwer, ein Gesamtbild der Lage im Land zu bekommen.
Dafür bräuchte es einheitliche Regelungen und eine unabhängige Aufarbeitung. Zugleich bräuchte es vergleichbare Verfahren, was Anerkennungsleistungen betrifft. Die Kirchen selbst, das zeigt die Vergangenheit, sind damit überfordert. Notwendig wären staatliche Regelungen, die für alle gelten. Diese würden über den kirchlichen Bereich hinaus eine Aufarbeitung ermöglichen.
Der ungehörte Skandal
Damit machte es für Betroffene keinen Unterschied mehr, an welchem Ort und im Verantwortungsbereich welcher Institution sie Missbrauch erfahren haben. Der Ruf der Betroffenen nach staatlicher Unterstützung bleibt seit Jahren ungehört. Auch das ist ein Skandal.
In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.