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Fast fünf Jahren war Peter Frings Interventionsbeauftragter im Bistum Münster. Er war der Erste in dieser Funktion, der für Missbrauchs-Aufklärung und Betroffene zuständig war. Zum Monatsende geht der 65-Jährige in den Ruhestand. Im Kirche+Leben-Interview berichtet er von Erfolgen, Rückschlägen und bleibenden Herausforderungen.
Herr Frings, fünf Jahre als Interventionsbeauftragter: Genug erreicht oder zu viel liegen lassen müssen?
Ob wir genug erreicht haben, müssen andere bewerten. Ich habe dem Generalvikar und dem Bischof aber gesagt, dass noch eine Menge zu tun ist. In fünf Jahren bekommt man nicht alles aufgearbeitet, was früher lange in die falsche Richtung gelaufen ist. Meine Nachfolger werden sicher noch viel zu tun haben. Ob es dabei um neue Fälle geht oder um Altfälle, das weiß man nie.
Mit welchen Vorstellungen sind sie damals in Ihre Aufgabe gestartet?
Es gab keine Stellenbeschreibung – das machte für mich den Reiz aus. Ich konnte mich dem Thema nach meinen Vorstellungen stellen. Natürlich hatte ich im Vorfeld mitbekommen, wie Kirche und Bistum sich bei diesem Thema verhielten. Da kam ich schon mit der Idee, dass wir etwas anderes machen müssen.
Was war ab da anders?
Vor allem der Weg in die Öffentlichkeit. Das haben wir in vielen Fällen deutlich anders gemacht als andere Bistümer. Wir haben versucht, so transparent wie möglich mit Sachverhalten umzugehen und auch Aspekte zu benennen, die für das Bistum schwierig waren. Wir haben Fehler eingeräumt und nicht den Fehler gemacht, scheibchenweise zu agieren. Wir haben nicht erst reagiert, wenn etwas von außen kam, sondern sind – wenn wir das konnten – offensiv mit den Sachverhalten umgegangen.
Wie frei waren Sie dabei in Ihren Entscheidungen?
Ich war weisungsunabhängig. Wenn ich nicht frei gewesen wäre, hätte ich die Arbeit nicht fünf Jahre gemacht. Das war von Anfang an klar: Die Bistumsleitung hatte die Stelle mit dieser Freiheit installiert und das ernst genommen. Es hat nie den Versuch gegeben, irgendetwas, das ich vorhatte, zu verhindern. Ich durfte meine Meinung sagen und durfte so handeln, wie ich es selbst verantworten konnte.
Was war der Kern Ihrer Arbeit?
Ich habe mich von Anfang an um konkrete Fälle sexualisierter Gewalt gekümmert – da gab es keine Schonfrist. Es gab von der ersten Woche an Gespräche mit Betroffenen, es gab neue Fälle und alte Fälle. Das Zuhören und den Betroffenen Glauben zu schenken, war dabei das Entscheidende, das haben mir viele Betroffenen zurückgespiegelt, die zu uns gekommen sind. Sie haben mir oft ihre Kern-Frage gestellt: Glauben Sie mir? Weil es eben so undenkbare Dinge waren, die sie erleiden mussten.
War dieses Vertrauen neu?
Verantwortliche in der Kirche haben Betroffenen oft über Jahrzehnte deutlich gemacht: Wir glauben dir nicht! Ohne Vertrauen geht es aber nicht. Das war ein wichtiger Aspekt: Zuerst zuschauen, welche konkreten Erlebnisse die jeweils mit mir im Gespräch befindliche betroffene Person mitbrachte, um mich dann an den Erwartungen zu orientieren, mit denen die einzelne Person an mich herantrat. Der Mensch im Gespräch mit mir war für mich das Entscheidende. Dabei durfte ich ihn nicht in Frage stellen – das habe ich gelernt. Denn da kommt jemand und erzählt mir etwas enorm Belastendes und für viele Betroffene auch noch nach Jahrzehnten zutiefst Beschämendes.
Wie haben Sie sich dabei selbst von Zweifeln befreien können?
Da hat mir auch meine Vergangenheit als Vorstandsvorsitzender des Vinzenzwerks in Münster-Handorf geholfen. Als es dort 2010 Vorwürfe gab, habe auch ich der betroffenen Person nicht geglaubt. Denn die seinerzeit dort im Konvent lebenden Schwestern hatten mir gesagt, sie wüssten nichts von Missbrauch durch die beschuldigte Person. Als ich dann beim Bistum war, musste ich erfahren, dass genau der Priester, der beschuldigt wurde, als Täter hinlänglich bekannt war. Dann hat Kirche+Leben Mitte 2022 – also 12 Jahre später! - ein Interview mit einer der Ordensschwestern veröffentlicht, die zuvor ebenfalls nichts preisgegeben hatte. Plötzlich sagte sie, dass Schwestern im Konvent von den Taten wussten. Das war für mich schon eine wichtige Erfahrung zu sehen, dass der Betroffene mit seinen Aussagen Recht hatte, obwohl bis dahin niemand seine Geschichte bestätigen wollte. Diese persönliche Erfahrung war extrem einschneidend für mich.
Sind Sie in Ihrer Aufgabe an persönliche Grenzen gestoßen?
Dass ich von Betroffenen attackiert wurde, war verständlich. Ich stand für sie als Vertreter der Kirche, die schwere Schuld auf sich geladen hatte. Schwer auszuhalten waren dagegen für mich manche persönlichen Schicksale der Betroffenen. Wenn ich das alles nur gelesen hätte, hätte ich vielleicht gesagt, dass das überzogen ist, dass das so einfach nicht sein kann. Im direkten Gespräch hatte das Schicksal aber ein Gesicht, war nachvollziehbar. Das hat mir schon zugesetzt.
Wie hat das ihren Blick auf die Kirche als Institution verändert?
Mein Bild von der Amtskirche und von einigen Priestern ist gewaltig ins Rutschen geraten. Es gibt leider immer noch einzelne Bestrebungen und Kräfte in unserer Kirche, die das Thema Missbrauch wieder nach hinten schieben wollen. Aber gerade deswegen will ich den gesamten „Laden“ nicht verlassen. Ich möchte das Feld nicht denen überlassen, die wieder alles zurückdrehen wollen. Den Gefallen werde ich diesen Leuten nicht tun. Ich fühle mich weiter wohl in der Kirche, weil ich nicht alles auf das Thema Missbrauch reduzieren will. Das ist keinerlei Relativierung der schrecklichen Verbrechen. Wenn ich aber schaue, wie viele Menschen in Kirche und Caritas nach wie vor tagtäglich Gutes leisten, für andere Menschen da sind, dann sehe ich, dass der Kern der Botschaft nach wie vor zu richtig und wertvoll ist, um sich abzuwenden.
Wie haben Sie mit Beschuldigten kommunizieren können?
Für mich war es interessant zu erleben, wie Beschuldigte manchmal in der Öffentlichkeit aufgetreten sind. Die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft Ermittlungen einstellt, heißt nur, dass es bei den konkreten Vorwürfen keinen strafrechtlichen Aspekt gibt. Beschuldigte benutzten und benutzen das aber gerne als Freibrief und stellen sich öffentlich als unschuldig dar. Noch mehr: Für sie waren und sind der Bischof und der Interventionsbeauftragte die Bösen, weil sie sie diffamierten. Ich kenne aber die Vorgänge und Akten. Das Verhalten vieler beschuldigter Kleriker würde bei jedem Angestellten, der kein Kleriker ist, arbeitsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Diesen Aspekt blendeten diese Herrschaften dramatisch aus. Es gibt dann nicht wenige – gerade auch Laien – , die dem Beschuldigten blind glauben, weil er nicht strafrechtlich verurteilt wurde. Ich kenne Situationen auch von lebenden Klerikern, die sich dann in einer Art und Weise verhalten haben, für die jeder Laie sofort entlassen worden wäre.
Gab es besonders ärgerliche Momente?
Ich habe erfahren müssen, dass sich Mitarbeitende der Kirche – Kleriker und Laien – öffentlich laut geäußert haben, ohne irgendeine Ahnung von den Sachverhalten zu haben. Das gilt für Mitarbeiter auf Bistumsebene genauso wie für Akteure in den Pfarreien. Sie haben mich und andere kritisiert, ohne sich zuvor informiert zu haben. Sie haben auch nicht mit mir darüber gesprochen, geschweige denn haben sie die vielen Informationen gelesen, die wir ins Internet gestellt haben. In der Öffentlichkeit behaupteten sie dann, dass das Bistum nichts macht oder alles falsch macht. Auch das, was wir erreicht haben, wurde nicht wahrgenommen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man erreichen könnte, dass nicht über Menschen geredet wird, sondern mit ihnen!
Wie sehen Sie den andauernden Streitpunkt der Entschädigungszahlungen?
Man muss über das System der Unabhängigen Kommission der Kirche für Anerkennungszahlungen (UKA) reden. Das habe ich schon vor einem halben Jahr in aller Deutlichkeit gesagt. Die Zahlungen müssen höher werden, und es müssen endlich transparente Begründungen her. Wie soll ein Betroffener Widerspruch gegen die Höhe der Summe einlegen, wenn er die Gründe für die Entscheidung nicht kennt? Es wird auf Dauer so nicht weiter funktionieren. Ein solches System befriedet die Situation nicht, sondern es schafft immer nur neues Misstrauen.
Wie bewerten sie die Zahlen der aktuellen Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche?
Die Studie zeigt deutlich, dass Missbrauch nicht nur ein katholisches Thema ist. Das bedeutet, dass die Politik endlich entschlossen reagieren muss und nicht immer sagen darf: Die Kirche bekommt das einfach nicht in den Griff. Dann soll die Politik bitte endlich selbst etwas tun. Das fordert auch Bischof Genn immer wieder zu Recht. Der katholischen Kirche ist das alles durch ihren moralischen Anspruch und die Überhöhung ihres Priesterbildes zurecht auf die Füße gefallen. Da muss sie weiter durch den Scheuersack. Und richtig ist auch: Wir machen weiter mit unserem Weg der Aufarbeitung, das ist vernünftig. Es wäre aber gut, die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in Deutschland generell neu zu organisieren. Hat die Politik wirklich ein großes Interesse daran, dass sexueller Missbrauch gesamtgesellschaftlich intensiv aufgearbeitet wird? Dann müssten auch staatliche Einrichtungen wie Schulen, Verwaltungen, Universitäten oder auch der Bundestag in den Blick genommen werden. Glaubt wirklich jemand, dass es dort keinen sexuellen Missbrauch gab und gibt?
Die katholische Kirche arbeitet das Thema jetzt schon über viele Jahre auf – gibt es Hoffnung, dass sie irgendwann damit durch ist?
Das Thema werden wir nie abschließen können, weil Missbrauch trotz intensiver Prävention immer wieder stattfindet. Wir müssen vielmehr aufpassen, dass das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung nicht irgendwann hinten runterfällt. Dann besteht die Gefahr, in alte Zeiten zurückzufallen. Das darf auf keinen Fall geschehen. Dafür brauchen wir Menschen in der Kirche, die Strukturen und Vorgänge verändern möchten. Und wir brauchen Menschen, die nicht immer nur „Ja“ sagen, sondern die kritisch den Finger in die Wunde legen. Das muss von den Verantwortlichen in Kirche und Caritas gewünscht sein!
Gibt es die in der Kirche ausreichend?
In den vergangenen Jahren habe ich unglaublich viel Unterstützung aus den Gemeinden und auch von Kolleginnen und Kollegen aus dem Bistum erlebt. Auch mit Pfarrern, die selbst tief betroffen waren, gab es einen guten Austausch. Das ist wichtig, denn es gibt leider auch im Bistum Kreise – Kleriker und Laien! -, die bei diesem Thema ihr eigenes Süppchen kochen. Man muss sich nach meiner Erfahrung insbesondere vor manchen hüten, die sich in der Öffentlichkeit als große Aufklärer geben. Wer da am lautesten schreit, ist nicht immer der, der die transparentesten und richtigen Dinge tut. Vertuschung gibt es überall, auch ganz weit unten in den Strukturen.
Wo gibt es im Bistum künftig noch Klärungsbedarf?
Im Offizialatsbereich Oldenburg muss nach meiner Einschätzung noch mehr zu dem Thema passieren. In der Bistums-Studie wird auch dort von dramatischen Fällen gesprochen. Die Auseinandersetzung muss deshalb noch einmal intensiver angegangen werden. Und wir müssen zudem in andere Systeme innerhalb der Kirche schauen. Ich bin froh, dass die Caritas in unserem Bistum da schon vorangegangen ist. Wir haben aber auch noch weitere Bereiche wie Orden, Schulen oder Bildungshäuser. Es ist wichtig, dass sie sich selbst auf den Weg machen und nach ihren blinden Flecken suchen – von innen heraus. Erst zu warten, bis man von außen auf Ereignisse angestoßen wird, ist nicht zielführend. Man soll und muss sich der eigenen Geschichte stellen.