Kirche+Leben-Interview mit dem Hamburger Historiker und Studien-Beteiligten

Großbölting zu Missbrauch und EKD: Viel Ankündigung, wenig Aufklärung

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Thomas Großbölting hat bei der EKD-Missbrauchs-Studie mitgearbeitet - und bis 2022 jene für das Bistum Münster geleitet. Kirche+Leben-Interview über Parallelen, evangelische Überheblichkeit und katholische Aufklärungs-Bremsen.

Ihr erster Eindruck: Was sind für Sie die bedeutendsten Ergebnisse der Missbrauchsstudie?

Sexualisierte Gewalt ist ein umfassendes Thema für alle Bereiche der evangelischen Landeskirchen und der Diakonie, unabhängig vom politischen System und unabhängig vom jeweiligen pastoralen Stil: Sexualisierte Gewalt hat es in der Bundesrepublik, in der DDR wie auch im wiedervereinten Deutschland gegeben. Sexualisierte Gewalt kam in liberalen reformorientierten Gemeinden ebenso vor wie in pietistisch-„frommen“ Zusammenhängen – und das in einem erheblichen Ausmaß! Betroffene Frauen und Männer konnten bislang nicht oder nur bedingt damit rechnen, mit ihren Erfahrungen gehört zu werden und auf einen angemessenen Umgang zu stoßen. 

In der Bewertung Missbrauchsstudien zur katholischen Kirche wurden rigide Sexualmoral, Zölibat und Männerbündisches als Missbrauch begünstigende Faktoren benannt. Wo gibt es in der evangelischen Studie Parallelen?

Die auffälligste Parallele ist die der Pastoralmacht der Geistlichen: Wo im Katholischen die Weihe den Priester zum „heiligen Mann“ macht, da ermöglicht es im Protestantischen der Ruf des Pfarrhauses und die Vorbildfunktion des geistlichen Experten, Macht über Gläubige zu missbrauchen und sexualisierte Gewalt auszuüben. Zugespitzt gesprochen: Wer mit ihm sich anvertrauenden Menschen über existenzielle Fragen spricht, ist in einer ganz besonderen Stellung – egal ob lutherischer Pfarrer, refomierte Geistliche oder katholischer Priester. Es gibt darüber hinaus evangelische Spezifika, die Missbrauch ermöglicht und das Vertuschen begünstigt haben: Fehlende Kontrolle im pastoral Tun und Verantwortungsdiffusion im Umgang mit sexualisierter Gewalt, die Überzeugung die „modernere“ und die damit weniger anfällige Kirche zu sein, ein immanenter Harmoniezwang, der es Betroffenen schwer macht, ihre Erfahrungen zu artikulieren … 

Medien berichten, bei der heute vorgelegten evangelischen Studie hätten 20 Landeskirchen und Diakonie eine Einsicht in Personalakten nicht gewährt. Wie bewerten Sie das angesichts Ihrer Erfahrungen bei Ihrer Studie mit dem Bistum Münster beziehungsweise mit Blick auf die MHG-Missbrauchs-Studie über die katholische Kirche in Deutschland?

Insbesondere für die quantitativ arbeitenden Kolleginnen und Kollegen in ForuM („Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“, d. Red.) waren die Ausgangsvoraussetzungen viel schwieriger, als wir sie im Bistum Münster vorgefunden haben: Da die Bistumsspitze selbst Zugriff auf alle benötigten Akten und Durchgriff auf die entsprechenden Stellen hatte, war es einfacher, die Offenlegung auch durchzusetzen. Zugespitzt gesprochen: Wo im Katholischen die rigide Hierarchie ein begünstigender Faktor des Missbrauchs sein konnte, ist sie in der Aufarbeitung so lange hilfreich, wie die Spitze aufarbeiten will.
In den Landeskirchen war der Koordinierungsbedarf viel höher, es gab zeitliche Verzögerungen und sicher auch an manchen Stellen den Unmut, sich überhaupt an diese Aufgabe zu machen. In der Summe führte das dazu, dass das Ergebnis auf der Seite der Zahlen unbefriedigend bleibt.

Was sagen Sie dazu, dass die evangelische Kirche erst sechs Jahre nach der „katholischen“ MHG-Studie eine eigene Studie veröffentlicht? 

Die EKD und die Landeskirchen sind viele Jahre im Schatten der Diskussion um die katholische Kirche geblieben. Dazu hat auch das verbreitete Selbstbild beigetragen, die „bessere Kirche“ zu sein: Da stärker dezentral, demokratischer und partizipativ organisiert und weniger hierarchisch ausgerichtet, glaubten sich viele weniger anfällig für sexualisierte Gewalt. Dieses Selbstbild ist nachhaltig widerlegt. Von der am Beginn des Prozesses zugesagten tiefgreifenden Aufklärung ist nicht viel geblieben.

Nach wie vor gibt es Streit ums Geld bei der Anerkennung des Leids für Betroffene in der katholischen Kirche. Wo steht deren Aufarbeitung zurzeit?

Als Mitglied der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Bistum Münster kann ich berichten, dass es trotz viel Engagements der Beteiligten nur langsam und zäh vorangeht. Dazu trägt sicher auch bei, dass es in der Institution nach wie vor Bremsen und Bremser gibt. Gleichzeitig sind viele der mit der Aufarbeitung aufgeworfenen Fragen tatsächlich hoch komplex und nicht einfach anzugehen. 

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