Ein Jahr Missbrauchsstudie - Was hat sich getan? (2)

Großbölting: Aufarbeitung in der Kirche läuft mäßig bis schlecht

Anzeige

Thomas Großbölting hat mit seinem Forscherteam das Missbrauchsgutachten für das Bistum Münster erstellt und präsentiert. Wie er die Entwicklungen in der Aufarbeitung bewertet, erklärt der Historiker im Interview mit „Kirche-und-Leben.de“.

Professor Großbölting, vor einem Jahr haben Sie die Missbrauchsstudie für das Bistum Münster vorgestellt. Wie informieren Sie sich seitdem über die Aufarbeitung in der Diözese?

Aus der Arbeit an der Studie habe ich nach wie vor viele Kontakte zu betroffenen Frauen und Männern wie auch zu kirchlichen Verantwortlichen im Bistum und darüber hinaus, sodass ich mich persönlich gut informieren kann. Im Allgemeinen aber rutscht das Thema sexualisierte Gewalt in der Kirche mehr und mehr aus dem Fokus.

Nach mittlerweile 13 Jahren öffentlicher Beschäftigung mit dem Thema erschrickt es niemanden mehr, wenn beispielsweise der spätere Papst Benedikt in seiner Amtszeit als Bischof massiv vertuscht hat, ein Kölner Geistlicher seine eigenen Nichten missbrauchte oder in der nächsten Studie wiederum jeder zwanzigste Diözesanpriester sexuellen Missbrauchs beschuldigt wird. Diese furchtbare „Gewöhnung“ spiegelt sich in der öffentlichen Beschäftigung damit, die mehr und mehr abstumpft und zur Routine wird. Das macht es nicht leicht, sich über den weiteren Fortgang zu informieren.

Wie bewerten Sie die Fortschritte in Sachen Aufarbeitung auf allen kirchlichen Ebenen?

Mäßig bis schlecht – um es prägnant zu sagen. Institutionell hat es zwar mit Blick auf Intervention und Meldepflichten, auf Sensibilisierung und Prävention eine Reihe von Fortschritten gegeben. Dafür haben der Druck durch die Betroffenen wie auch ein dezidierter Aufarbeitungswillen einiger Akteure gesorgt. Diese Änderungen waren aber keinesfalls dazu angetan, die tiefen Irritationen und Zweifel innerhalb der Kirche zu beseitigen.

Ich erlebe besonders in den Gemeinden, in denen selbst Missbrauchstäter aktiv gewesen sind, viel echte Empörung und starken Veränderungswillen, der sich aber allzu oft selbst bei ehemals stark engagierten Laien allein in den Rückzug verliert.

Im Gespräch mit kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern höre ich sehr viel Resignation, bei der die eigene Leidenschaft für den Beruf gelegentlich in tiefen Zynismus umschlägt. Die Gruppe der Priester sieht sich durch die Aufdeckung der zahlreichen Missbrauchsfälle in ihrem eigenen Lebens- und Berufsmodell massiv in Frage gestellt und bleibt in dieser ganzen Debatte nahezu sprachlos.

Welche konkreten Schritte fehlen Ihnen bei der Aufarbeitung?

Die besonderen Ermöglichungsbedingungen im Katholischen werden nicht angegangen: Missbrauch basiert auf Pastoralmacht, die wiederum abgeleitet ist von der Markierung des einzelnen Priesters und der gesamten Hierarchie als „heilig“. Neben diesen Klerikalismus treten männerbündische und frauenfeindliche Strukturen, eine latente Homophobie und eine vollkommen scheinheilige Sexualmoral. Das sind Faktoren, die im Katholischen Missbrauch ermöglichen und das Vertuschen befördern. An diese sehr basalen Zusammenhänge wird bislang nicht gerührt.

Gerade sind die Finanzmittel für die Unabhängige Aufarbeitungskommission (UAK) bewilligt worden. Was kann die Kommission aus Ihrer Sicht als Mitglied leisten und was nicht?

Die UAK im Bistum Münster sieht sich den Interessen und Rechten von Menschen verpflichtet, die von Missbrauch und Gewalt im kirchlichen Raum betroffen waren und sind. Sie will unter Beteiligung der Betroffenen aufarbeiten, wie viel und welchen Missbrauch es gegeben hat. Mit Blick auf Gegenwart und Zukunft arbeitet die UAK darauf hin, dass Missbrauch so weit wie möglich im Sinne der Betroffenen wiedergutgemacht wird und Kirche sich so ändert, dass Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt verhindert werden. Wenn einzelne Betroffene konkreten medizinischen, psychiatrischen oder auch juristischen Beistand benötigen, wird sie Hilfe vermitteln.

Franz Hitze Haus lädt ein zur Zwischenbilanz
Aus Anlass des Jahrestags der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie für die Diözese Münster lädt die Bistums-Akademie Franz Hitze Haus zu einer Veranstaltung ein. Am Dienstag, 13. Juni, ab 18.30 Uhr werden der Betroffene Peter Tenbusch aus Rhede, Professor Thomas Großbölting, Bischof Felix Genn und der Chefredakteur der „Herder Korrespondenz“, Stefan Orth, sprechen. Eine Anmeldung ist erforderlich. Informationen dazu unter www.franz-hitze-haus.de/info/23-025.

Anzeige