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Als 2018 die große, bundesweite MHG-Studie Missbrauch im großen Stil zeigte, war das Entsetzen groß. Ähnlich war es am 13. Juni 2022, als das Missbrauchs-Gutachten für das Bistum Münster veröffentlicht wurde. Zu dessen Jahrestag zeigt sich: Ursachen sind zwar erkannt, Reformen gefordert, fundamentale Konsequenzen aber werden von höchster Stelle untersagt. Das System Kirchenmacht zeigt sich unerschütterlich. Ein Kommentar von Chefredakteur Markus Nolte.
Eine Gemeinschaft mit 2000-jähriger Tradition ist Expertin darin, Gedenktage zu schaffen und über Jahrhunderte zu begehen. Das ist wertvoll und wichtig, weil so – wenn es gut läuft – die Rückbindung an jene Quellen und Wurzeln verstetigt wird, die auch heute maßgeblich fragen sollen und tragen können.
Das ist Religion im Wortsinn: Rückbindung. Da ist sie wertvoll, weil sie aus vergangenen Erfahrungen von Glück oder Leid, Schmerz oder Heil, Angst oder Erlösung, Katastrophe oder Neubeginn mit Anspruch mahnen, erneuern und stärken kann.
Zwei Tage mit Gedenkpotenzial
Der 25. September 2018 war für die katholische Kirche in Deutschland ein Tag mit Gedenktagspotenzial, der 13. Juni 2022 war es für das Bistum Münster. Vor fünf Jahren zeigte die MHG-Studie das Missbrauchs-Grauen auf Bundesebene, vor einem Jahr präsentierte das Team um Historiker Thomas Großbölting seine grausigen Missbrauchs-Erkentnisse für die Diözese Münster.
Exakt am ersten Jahrestag stellt sich Bischof Felix Genn in der Bistums-Akademie einer öffentlichen „Zwischenbilanz“. Deren Titel sagt es ehrlich: Natürlich kann die Aufarbeitung jahrzehntelanger Vertuschung nicht binnen eines Jahres erledigt sein. Sie kann es schon allein deshalb nicht, weil – wie Thomas Großbölting im Gespräch mit „Kirche-und-Leben.de“ sagte – viele der typisch katholischen Missbrauch ermöglichende Faktoren nicht in Münster beseitigt werden können: „frauenfeindliche Strukturen, eine latente Homophobie und eine scheinheilige Sexualmoral“. Daran, so Großbölting, werde nach wie vor nicht gerührt. Gutachten hin, Reformprojekte her.
Rom bremst, wo es nur geht
Natürlich gab es (deshalb!) den Synodalen Weg, der diese Themen wie auch Klerikalismus und Machtmissbrauch deutlich diskutiert und Beschlüsse, Forderungen und Bitten verabschiedet hat. Seitdem allerdings steckt das Aufarbeitungs-Projekt „Reform“ kräftig in der Sackgasse. Rom bremst, wo es nur geht; mancher deutsche Bischof überlegt, den synodal beschlossenen, aber zentral untersagten Synodalen Ausschuss feudal durch Entsagen von Geld der Kirchensteuerzahlenden zu verhindern.
Okay, das Arbeitsrecht ist deutlich liberalisiert worden, ein echter Fortschritt – aber offizielle Segensfeiern für homosexuelle oder wiederverheiratete Paare gibt es nach wie vor längst nicht in jedem Bistum.
Ursachen bekannt, Konsequenzen bleiben aus
Lehr-Reformen bei Zölibat, Frauenweihe, Macht und Sexualmoral könnten ohnehin nicht in Deutschland entschieden werden. Seit Rom allerdings nachdrücklich erklärt hat, die Weltsynode werde sich ganz sicher dieser Themen nicht annehmen, bleibt diese nüchterne Bilanz:
Was die katholische Kirche in die größte Krise gestürzt hat und auf absehbare Zeit darin belässt, was vor allem aber tausende Menschen in der katholischen Kirche weltweit schlimmstem Leid aussetzte – die Ursachen, Strukturen, Täter sind bei den meisten wohl verstanden, auch bei den meisten Bischöfen hierzulande. Doch es sind die Mächtigsten dieser Kirche, die nicht gewillt sind, dies alles anzuerkennen und daraus Konsequenzen zu ziehen – für die Lehre der Kirche und ihre Gesetze, für ihren Umgang mit Macht. Sie desavouieren so jedes Bemühen um Aufklärung und Aufarbeitung, jede Präventionsschulung für tausende Ehrenamtliche, jedes Ringen des Gottesvolks um eine authentische, glaubwürdige Kirche. Und - das Leid der Betroffenen.
Der 25. September 2018 und der 13. Juni 2022 müssten schmerz- und kraftvolle Gedenktage sein. Sie sind es nicht. Sie werden es nicht sein. Empörenderweise völlig zu Recht.