Chefredakteur Markus Nolte zu erwarteten Austrittszahlen auf Rekordniveau

Die Trauer derer, die nicht in der Kirche bleiben konnten, ist Auftrag

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In der kommenden Woche werden die aktuellen Kirchenaustrittszahlen erwartet. Viel spricht für neue Rekordwerte. Doch es geht um weit mehr als Verluste für die Kirche. Viele, die gehen, schmerzt der Verlust von Heimat, Hoffnung, Halt. Das muss die angehen, die bleiben, sagt Chefredakteur Markus Nolte aus einer sehr persönlichen Erfahrung.

Eine weite, freie, liebevolle Kirche ist möglich. Ich habe sie erlebt. Und sie lebt in mir weiter – allemal an dem inneren Ort, von dem die Mystikerinnen und Mystiker des Christentums sagen, dort seien sich Gott und Mensch am nächs­ten.

Der erlebte äußere Kirch-Ort hatte die Kraft, mein Leben zu verändern und Mönch zu werden – auch wenn ich damals ganz sicher zu jung war, um diese Entscheidung mit der nötigen Wucht und dem nötigen Gewicht zu treffen. Es war eine gewisse jugendliche Leichtigkeit darin, eine Schwärmerei womöglich, aber doch zweifellos auch ein großer Ruf, dem ich antworten musste. Eine Begeisterung, in der ich ohne jede Frage jenen Geist am Werk weiß, mit dem Gott selber sich in Menschen zu geben vermag.

Zutrauen und Mut

Ich habe an diesem Kirch-Ort erlebt und erfahren: Zutrauen und Mut zum Experiment. Mit Anfang 20 predige ich in der Sonntagsmesse der Gemeinschaft, ohnehin dort kein Privileg für Priester oder Mönche, Katholiken oder Männer.

Zur Klos­tergemeinschaft gehört dort eine Zeit lang ein evangelischer Bruder, auf dem Mönchsfriedhof wird ein junger Muslim bestattet. Die Gemeinschaft positioniert sich klar und deutlich für Frieden, für Flüchtlinge, für Freiheit, auch für Diversität – wie man heute sagen würde.

Großzügigkeit und Gastfreundschaft

Ich habe an diesem Kirch-Ort erlebt und erfahren: Großzügigkeit und Gastfreundschaft. Die Gemeinschaft, alles andere als vermögend und stets auf Spenden angewiesen, verdoppelt beim Pfingst- und Silvestertreffen mit hunderten Jugendlichen deren Kollekte. Nach großen liturgischen Feiern lädt der Konvent ein zur Begegnung auf dem Klos­terplatz bei Sekt und Selters, die Mönche bedienen.

Jeder und jede ist auch für längere Aufenthalte willkommen – ganz gleich wie jemand lebt, liebt, glaubt. Und es kommen viele Verschiedene – aus Kunst und Medien, Politik und Wirtschaft, Bischöfe und Kirchenferne ...

Tiefe und Weite

Ich habe an diesem Kirch-Ort erlebt und erfahren: Tiefe und Weite. Die Gottesdienste voll von Können, Kultur, Stil, Ästhetik, von Gottsuche mehr als Kirchenlehre.

Immer wieder denken die Mönche darüber nach, was Mönchsein eigentlich ist, wie das geht und wie es heute geht, was es übers Menschwerden sagt und was es Kirche und Welt zu sagen hat an Mahnung und Ermutigung, auch wie es sich verändern muss und ob es verschiedene Grade der Zugehörigkeit geben kann.

Angstfrei und gebetvoll

Vor allem aber soll und will, so habe ich es erlebt und erfahren, dieser Ort ein angstfreier Ort sein. Es gelingt sicherlich nicht immer, das auch tatsächlich zu sein. Aber die Grundhaltung ist die einer großen Freigiebigkeit und Toleranz, der Barmherzigkeit und der Warmherzigkeit. Ein Ort, wo Menschen wachsen können, nicht selten über sich hinaus.

Ich habe diesen Kirch-Ort erlebt und erfahren vor und in all dem als einen Ort des Gebets. Aber eines Gebets, das – aus den Psalmen genährt – nicht nur lobpreist und jubelt, sondern mindestens so viel fragt und klagt. Weil dort Menschen sich Gott verschreiben und sich zugleich nie ganz seiner sicher sind.

Und auch wenn oder gerade weil mein Leben mich schließlich Wege außerhalb des Klosters führte, kann ich die Trauer vieler Menschen fühlen, die nicht länger in der Kirche bleiben können. Diese ihre Trauer muss uns mindestens so anrühren, wie unsere Trauer darüber, dass sie gingen.

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