Ein Jahr Missbrauchsstudie - Was hat sich getan? (1)

Missbrauch im Bistum Münster: So steht es um die Aufarbeitung

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Vor einem Jahr wurde die Missbrauchsstudie des Bistums Münsters vorgestellt. Bischof Felix Genn hatte sie bei einem unabhängigen Forscherteam der Universität Münster in Auftrag gegeben. Was hat sich seitdem getan? „Kirche-und-Leben.de“ hat bei Betroffenen, dem Forscherteam und dem Bistum nachgefragt. Klar ist: Es bleiben Fragen. Zunächst ein Überblick, was alles seitdem passiert ist.

Als vor einem Jahr am 13. Juni 2022 die Untersuchung zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster vorgestellt wurde, war nicht nur das Medienecho groß. Die nüchternen Zahlen, die das Forscherteam der Universität Münster um den Historiker Professor Thomas Großbölting vorlegte, riefen großes Entsetzen hervor, auch wenn viele Details und Missbrauchsfälle Jahre zuvor bereits aufgedeckt und in die Öffentlichkeit gebracht worden waren.

Das 600 Seiten umfassende Gutachten zählte für den Zeitraum von 1945 bis 2020 genau 196 Beschuldigte und 610 Betroffene. Die Dunkelziffer des Missbrauchs bewertete das Forscherteam um ein Vielfaches höher.

Großbölting: Deutliches Führungsversagen

Es waren nicht allein die Beschreibung der Täterprofile und der von Missbrauch betroffenen Kinder und Jugendlichen, die die Öffentlichkeit nicht einmal mehr aufhorchen ließen. Denn die Studie hatte auch an verschiedenen Beispielen den innerkirchlichen Umgang mit Beschuldigten und Betroffenen rekonstruiert und in den jeweiligen zeitlichen Kontext eingeordnet.

„Wir sehen ein deutliches Führungs- und Kontrollversagen der Bistumsleitung, das sich nicht auf Einzelfälle begrenzt, sondern über Jahrzehnte zu beobachten ist“, hatte Thomas Großbölting festgestellt. Erst zu Beginn der 2000er Jahre und insbesondere seit 2010 verändern sich die Routinen des bislang praktizierten Umgangs mit Fällen sexueller Gewalt gegenüber Minderjährigen im Bistum Münster.

Genn kündigt Maßnahmen an

Wenige Tage nach der Vorstellung der Studie, die Interessierte kostenlos im Internet einsehen konnten, stellte Bischof Felix Genn am 17. Juni 2022 ein umfassendes Maßnahmenpaket vor, um sexuellen Missbrauch aufzuarbeiten und künftig zu verhindern. Alle Pfarreien erhielten außerdem ein gedrucktes Exemplar der Studie. Betroffene hätten neben dem Anspruch auf eine unabhängige Aufarbeitung „vor allem einen Anspruch auf ein verändertes Verhalten kirchlicher Amtsträger“ und „auf das Eingeständnis von Fehlern, auf ehrliche Reue und wirkliche Umkehr“.

Unmittelbar nach Veröffentlichung der Studie hatte Bischof Genn der Staatsanwaltschaft Münster die Ergebnisse zukommen lassen „mit der Bitte, sie im Blick auf mögliche strafrechtlich relevante Vorgänge zu prüfen und zu bewerten“.

Harte Sanktionen für Täter

Der Bischof kündigte an, eine kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit einzurichten, die kirchliche Verwaltungsakte durchschaubarer, transparenter und rechtlich überprüfbar machen soll und deren Urteil als unabhängige Kontroll-Instanz er sich „freiwillig“ stellen werde.

Eine diözesane kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit im Bistum ist derzeit in Arbeit und wird vom Münsteraner Kirchenrechtsprofessor Thomas Schüller auf den Weg gebracht.

Unmissverständlich erklärte Genn als eine der wichtigsten Maßnahmen, die umgehend umzusetzen seien: „Priester und andere Seelsorgerinnen und Seelsorger, die Kinder, Jugendliche oder Erwachsene sexuell missbraucht haben, werden nicht mehr in der Seelsorge eingesetzt, weder in Pfarreien noch in Einrichtungen.“ Kirchliche Mitarbeitende, die nicht in der Seelsorge eingesetzt seien und Menschen sexuell missbrauchten, müssten mit harten arbeitsrechtlichen Sanktionen rechnen.

Großbölting beklagt mangelnden Reformwillen

„Erledigt wird dieses Thema nie sein“, hatte Bischof Genn im Juni 2022 gesagt und diesen Satz bei einem Zwischenfazit im vergangenen November wiederholt, als er erklärte: „Ich habe zugesagt, regelmäßig transparent zu machen, wie weit wir in der Umsetzung der einzelnen Maßnahmen sind. Als Zwischenfazit kann ich aus meiner Sicht sagen: Es wurde schon einiges auf den Weg gebracht; es gibt aber hier und da Schwierigkeiten in der Umsetzung; und es bleibt noch viel zu tun.“

Zwischenzeitlich hatte der Leiter der Historiker-Kommission, Thomas Großbölting, den ausbleibenden Reformwillen in der katholischen Kirche beklagt: „Noch kann ich nicht erkennen, dass unsere Studie jemanden wachgerüttelt hat.“ Seiner Meinung nach blieben „die Bistümer ihrer bisherigen Linie treu: etwas mehr Geld, weitere Ansprechpartner – aber keine großen Veränderungen“.

Aufarbeitungskommission nimmt Arbeit auf

Um weiter das Themenfeld des sexuellen Missbrauchs aufzuarbeiten, haben die Bistümer Münster und Osnabrück eine Forschungsgruppe der Universität Münster beauftragt, spezielle Formen von Machtmissbrauch in religiös-spirituellem Zusammenhang zu untersuchen. Ziel der Studie ist es, Faktoren zu ermitteln, die geistlichen Missbrauch begünstigen, und daraus Möglichkeiten zur Vorbeugung zu entwickeln. Geleitet wird die Untersuchung von Judith Könemann vom Institut für Religionspädagogik und Pastoraltheologie der Universität Münster.

Die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs und sexualisierter Gewalt für die Regionen des Bistums Münster“ – kurz UAK – nimmt jetzt ihre Arbeit auf. Sie erhält aus Kirchensteuermitteln 1,75 Millionen Euro. Diese Kommission war bereits vor mehreren Monaten ins Leben gerufen worden.

Die UAK wird den Betroffenen in den Regionen des Bistums Münster regelmäßig berichten und ihre Impulse vorrangig aufgreifen. Ziel ist es, dass Betroffene Ansprechpersonen erhalten, mit denen sie über ihre Erfahrungen von Leid und Unrecht im geschützten Rahmen sprechen können.

Neuer Fall in Kleve rüttelt wach

Die UAK, in der auch Großbölting mitarbeitet, wird bewerten, was im Bistum Münster, in Verbänden und kirchlichen Gemeinschaften getan werden muss, um sexuelle Gewalt nachhaltig zu verhindern. Der achtköpfigen Kommission gehören drei Betroffene sexueller Gewalt an, die bei einem Betroffenentreffen im März 2023 gewählt wurden.

Dass die historische Aufarbeitung noch nicht zu Ende ist und Fälle aus vergangenen Jahrzehnten neu ins Rampenlicht gelangen, machten vor wenigen Wochen Betroffene öffentlich, als sie von Übergriffen berichteten: Gegen einen ehemaligen Schuldirektor des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums in Kleve, einen 1991 verstorbenen Priester, wurden Vorwürfe laut, Kinder und Jugendliche missbraucht zu haben. Einen Hinweis auf sexuellen Missbrauch durch ihn hatten den damaligen Bischof von Münster, Reinhard Lettmann, bereits Mitte der 1980er Jahre erreicht, ohne dass es zu Konsequenzen gekommen wäre.

Franz Hitze Haus lädt ein zur Zwischenbilanz
Aus Anlass des Jahrestags der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie für die Diözese Münster lädt die Bistums-Akademie Franz Hitze Haus zu einer Veranstaltung ein. Am Dienstag, 13. Juni, ab 18.30 Uhr werden der Betroffene Peter Tenbusch aus Rhede, Professor Thomas Großbölting, Bischof Felix Genn und der Chefredakteur der „Herder Korrespondenz“, Stefan Orth, sprechen. Eine Anmeldung ist erforderlich. Informationen dazu unter www.franz-hitze-haus.de/info/23-025.

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