Ein Jahr Missbrauchsstudie für das Bistum Münster

Missbrauch: Betroffene hoffen weiterhin auf angemessene Entschädigung

  • In der Akademie Franz Hitze Haus in Münster haben Betroffene und Experten zum Jahrestag der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie eine kritische Zwischenbilanz gezogen.
  • Peter Tenbusch von der Selbsthilfe Rhede erwartet klare Regeln für eine angemessene Entschädigung.
  • Bischof Felix Genn sieht sich in der Pflicht, Maßnahmen zu ergreifen, um sexuellen Missbrauch in der Kirche zu vermeiden.

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Eine angemessene finanzielle Entschädigung für das Leid der Betroffenen von sexueller Gewalt in der Kirche erwartet Peter Tenbusch von der Selbsthilfe Rhede: „Auch ein Jahr nach der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie warten die Betroffenen auf klare Regeln, wie eine Entschädigung aussehen kann. Das ständige Warten muss aufhören.“

Tenbusch sprach auf einer Tagung in der Akademie Franz Hitze Haus in Münster, die eine Zwischenbilanz zur Missbrauchsstudie im Bistum Münster gezogen hat. Vor einem Jahr, am 13. Juni 2022, hatte eine unabhängige Historikerkommission der Universität Münster die Ergebnisse ihrer Studie zu den Fällen von sexuellem Missbrauch durch katholische Priester und anderer Amtsträger in den Jahren 1945 bis 2020 der Öffentlichkeit präsentiert.

Kölner Urteil mit Signalwirkung

Mit Blick auf das Urteil des Landgerichts Köln, das einem Betroffenen aus dem Erzbistum Köln einen Schadenersatz von 300.000 Euro zugesprochen hat, meinte Tenbusch: „Das heutige Urteil hat Signalwirkung. Nicht jeder Fall muss vor Gericht kommen. Viele Betroffene könnten sich eine außergerichtliche Einigung vorstellen. Doch dafür braucht es einheitliche Regeln, die außerhalb der Kirche aufgestellt werden müssten.“

Das Kölner Urteil zeige aber auch die Verantwortung der Diözese für den Missbrauch: „Das erste Mal wird anerkannt, dass es eine Haftung der Kirche gibt.“

Aufarbeitung braucht mehr Tempo

Viele Betroffene, so Tenbusch, seien erst nach der Veröffentlichung der Studie „sprachfähig“ geworden. Die Studie habe transparent gemacht, was vorgefallen sei. „Die Betroffenen müssen sich nicht mehr rechtfertigen.“ Nun gelte es, in der Aufarbeitung Tempo zu machen.

Er setze Hoffnungen in der vor einigen Monaten ins Leben gerufenen „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs und sexualisierter Gewalt für die Regionen des Bistums Münster“, die jetzt ihre Arbeit aufnehmen wird. „An dieser Stelle bedanke ich mich beim Kirchensteuerrat für die 1,75 Millionen Euro, die er der Kommission zur Verfügung stellt“, sagte Tenbusch.

Ernsthafter Wille zur Aufarbeitung

Professor Thomas Großbölting attestierte dem Bistum Münster einen Willen zur ernsthaften Aufarbeitung: „Münster hat im Vergleich zu den 26 anderen deutschen Diözesen beachtliche Schritte gemacht. Die Präventionsarbeit beispielsweise ist vorbildlich.“

Allerdings müsste noch vieles auf den Weg gebracht werden, um den Betroffenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sagte Großbölting. Zudem müssten strukturelle Machtfragen gelöst werden: „Die Kirche hat Probleme, Kontrolle und die Macht über die Prozesse abzugeben. Hier braucht es ein Umdenken ebenso wie in der Frage der Sexualmoral.“

Bischof Genn stellt sich der Verantwortung

Das Bistum werde sich daran messen lassen müssen, wie sehr es ihm gelingt, ihr große Ziel zu erreichen – nämlich Betroffenen Wiedergutmachung zu leisten. „Die Konsequenzen, die Bischof Genn ziehen will, sind ein erster Schritt“, sagte Großbölting.

Zum Stand der Aufarbeitung sagte Bischof Genn, dass er sich weiter „mit großer Ernsthaftigkeit dem Kampf gegen sexuellen Missbrauch stellen“ werde: „Ich kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Ich kann aber dafür sorgen, dass sie weiter aufgearbeitet wird, und ich kann Maßnahmen ergreifen, um sexuellen Missbrauch im Raum der Kirche künftig zu vermeiden.“

Genn: Haltung der Nulltoleranz

Er wolle sich seiner Verantwortung in dem notwendigen Prozess der Aufarbeitung nicht entziehen und setze auf die Zusammenarbeit mit den Betroffenen-Gruppen. „Betroffene müssen konkret erfahren, dass es keine hohle Phrase ist, wenn ich versichere: Betroffene haben neben dem Anspruch auf eine unabhängige Aufarbeitung vor allem einen Anspruch auf ein verändertes Verhalten kirchlicher Verantwortungsträger“, sagte Bischof Genn.

Die Betroffenen hätten einen „Anspruch auf das Eingeständnis von Fehlern, auf ehrliche Reue und wirkliche Umkehr, die sich in der Haltung und im Verhalten kirchlicher Verantwortungsträger zeigen muss. Und Täter sollen wissen, dass ich mich ihnen gegenüber von einer Haltung der Nulltoleranz leiten lasse.“

Kirchliche Macht braucht Kontrolle

Er selbst sei bereit, Machtbefugnisse abzugeben und Personalentscheidungen transparenter zu machen, betonte Bischof Genn: „Wenn wir wissen, dass Machtkonzentrationen in der Vergangenheit sexuellen Missbrauch begünstigt haben, dann müssen wir das ändern.“

Wie sehr Macht korrumpierbar machen kann und wie sehr Machtbefugnisse den Charakter eines Menschen verändern können, verdeutlichte in einem Statement die Psychologin und Managementberaterin Lioba Werth: „Macht pervertiert, wenn wir ihr nichts entgegensetzen. Macht braucht immer Kontrollinstanzen und eine Streitkultur.“

Tagung mit 60 Teilnehmenden

Jeder Mensch stehe in der Gefahr, korrumpierbar zu sein, meinte Werth. „Menschen verändern sich mit der Macht. Von daher sind Schulungen und Begleitungen von Menschen mit Machtbefugnissen ebenso wichtig wie die Fähigkeit zur Selbstreflexion.“ Es könne nicht sein, wenn in der Kirche vieles im Verborgenen geschehe. „Deshalb braucht die Kirche transparente Strukturen“, so die Managementberaterin.

Während der Tagung mit 60 interessierten Teilnehmerinnen und Teilnehmern erläuterte der Chefredakteur der Herder Korrespondenz, Stefan Orth, den Stand der Aufarbeitung nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle 2010, als ein Brief von Pater Klaus Mertes, dem damaligen Rektor des Berliner Jesuiten-Gymnasiums Canisius-Kollegs, eine Lawine lostrat und Missbrauchsfälle in großer Zahl öffentlich machte. „Es braucht eine bessere Machtkontrolle. Nur durch kirchliche Reformen können die Ursachen des Missbrauchsskandals nachhaltig bearbeitet werden“, sagte Orth.

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