Der Gasthof Orthues in Lippetal-Herzfeld hat seine eigene Wallfahrtsgeschichte

Wo der Kardinal mit Bier den Adventskranz löschte

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Der Gasthof Orthues im Schatten der Basilika in Lippetal-Herzfeld hat seine Türen geschlossen. Mit ihm verschwindet ein wichtiger Teil der Wallfahrtsgeschichte. Nicht, ohne viele Erinnerungen zurückzulassen.

Was für eine Schatzkammer! Das zeigt sich beim Betreten des uralten Fachwerkhauses wenige Meter neben der Wallfahrts-Balisika sofort. Auf den langen Tischen, die in den vielen Räumen zu einer Art Flohmarkt aufgereiht sind, stehen die Andenken an vergangene Zeiten. Gläser, Bestecke, Geschirr, Vasen, Tisch- und Wandschmuck – sie erzählen die Geschichte eines Gasthauses, das seit Jahrhunderten einen festen Platz im kirchlichen Leben in Lippetal-Herzfeld hat. Jetzt aber schließt der Gasthof Orthues seine Türen, das Inventar wird verkauft. Die schönen, lustigen, fröhlichen und auch traurigen Momente in diesen Mauern werden aber in Erinnerung bleiben.

„Sie glauben gar nicht, was sich hier alles abgespielt hat“, sagt Maria Orthues. Die Wirtin hat auf einem grünen Sofa Platz genommen. Es steht in einem Zimmer weit hinten im Erdgeschoss, hinter Schankraum, Gaststube und Küche. Rechts ein Klavier, links ein großes Bild der Heiligen Familie, auf den Fensterbänken Likörflaschen und Blumen. „Wer hier schon alles gesessen hat…“

Gasthaus-Geheimnis wie ein Bankgeheimnis

Wenn die 76-Jährige ins Erzählen kommt, ist sie kaum aufzuhalten. Ihr Repertoire an Erlebnissen und Anekdoten aus der langen Gasthausgeschichte scheint unerschöpflich. Wobei sie jeden zweiten Bericht mit den Worten „Das dürfen Sie aber keinem erzählen…“ beendet. Diese Geschichten fallen damit unter das Gasthaus-Geheimnis. Leider, denn Stoff für die eine oder andere Träne vor Glück oder Traurigkeit hätten sie allemal.


Video: Der Gasthof im Wallfahrtsort.

Aber auch das, was an Erzählungen übrigbleibt, reicht immer noch aus, um Bücher zu füllen. Im Mittelpunkt steht nicht selten die Sitzgruppe um den Couch-Tisch mit jenem grünen Sofa, auf dem sie gerade sitzt.

„Hier haben immer Reinhard Marx, Rolf Lohmann und Wilfried Theising gesessen.“ Die Geistlichen kamen regelmäßig nach Herzfeld, oft zur Festwoche der Heiligen Ida, schon bevor sie als Weihbischöfe und Kardinal Karriere machten. „Sie haben in diesem Zimmer immer ihre gemeinsamen Urlaube geplant“, erinnert sich Orthues. „Am Klavier spielte der Kaplan, während die drei Freunde ihre Reise in die Berge organisierten.“

Der brennende Adventskranz und Reinhard Marx

Bis einmal der Adventskranz in Flammen stand. Das ist so eine Geschichte, für die Maria Orthues nur nach reichlicher Überlegung ihr Einverständnis zur Veröffentlichung gibt. „Kardinal Marx war der Schnellste und hat die Flammen mit Bier aus seinem Glas gelöscht.“ So mancher Würdenträger hat sich so in den Geschichtsbüchern des Gasthofes verewigt. „Das dürfen Sie aber keinem erzählen…“

Wohl aber vom Besuch von Kardinal Joachim Meisner, der in der Ida-Woche die heilige Messe gefeiert hatte. „Er saß draußen, mitten zwischen den Pilgern.“ Sein Fahrer habe damals gestaunt: „Hochwürden fährt sonst immer direkt nach dem Gottesdienst, sucht eigentlich nicht den engen Kontakt mit den vielen Menschen.“ Vor dem Gasthof Orthues war das anders. „Er blieb eine ganze Weile“, sagt Orthues. „Und fühlte sich sichtlich wohl.“

Erst in die Basilika, dann in den Gasthof

Es mussten aber nicht die Größen der Kirche einkehren, um Geschichten zurückzulassen. Die vielen Vereine, Gruppen und Verbände aus dem Wallfahrtsort konnten das genauso. Frauengemeinschaft, Kolpingfamilie, die Schützenbruderschaft St. Ida oder die Chöre der Gemeinde waren nur einige, für die der Gasthof eine Art Vereinslokal war.

Plaketten, Pokale und Urkunden an den Wänden erzählen davon. „Und natürlich die Pilger, für die das Einkehren oft genauso wichtig war, wie der Besuch am Grab der heiligen Ida“, sagt Orthues. Um dann lachend zu ergänzen: „Sie mussten ja auch satt werden und in der Basilika gab´s nix zu essen.“

Anlaufstelle für Fragen

Auch das alltägliche Gemeindeleben hatte seinen Platz. Wenn das Pfarrhaus mal geschlossen war, gingen die Leute ein paar Türen weiter, um Fragen loszuwerden oder Termin zu machen. „Kein Problem, wir waren ja immer bestens informiert“, sagt Orthues.

Weil sich das Gemeindeleben zu einem großen Teil auch an der Theke und in den Sitzecken des Gasthofs abspielte. Oder im großen Festsaal im ersten Stock. „Hier trafen sich alle, um zu planen, zu diskutieren und zu feiern.“

Die Monstranz neben dem Bett

Und wenn Kelche, Monstranzen oder Kerzenleuchter geputzt werden mussten, nahm Maria Orthues sie ebenfalls mit aufs grüne Sofa. „Stundenlang.“ Wenn die Gegenstände abends noch nicht glänzten, stellte sie diese ins Schlafzimmer im ersten Stock neben das Bett. „Da waren sie sicher, bis ich morgens weiterputzen konnte.“ Viele anderen Aufgaben übernahm sie ähnlich: ehrenamtlich, unorthodox, ohne großes Aufheben.

Da waren auch schwere Momente. Dafür gab es oft einen bestimmten Platz. Den auf der Eckbank in der Gasthof-Küche, unter dem Holzkreuz. „Da habe ich das ganze Elend der Menschheit gehört.“ Verlust, Trauer, Ängste – manchmal hatte sie das Gefühl, dass bei ihr mehr gebeichtet wurde als in der Basilika nebenan, sagt Orthues lächelnd.

Stille Trauer auf der Küchenbank

Die Erinnerung an diese Augenblicke führt sie sofort viele Jahrzehnte zurück. „Damals schwammen die jungen Leute ja alle noch in der Lippe.“ Der hier noch kleine Fluss fließt wenige Meter hinter der Kirche entlang. „Jedes Jahr ertrank dabei jemand – und hier war der Ort, wo getrauert wurde.“ Offiziell beim Beerdigungs-Café, aber auch in Stille auf der Küchenbank.

Tränen flossen hier immer wieder. Auch, als sich der damalige Wallfahrtsleiter und heutige Weihbischof Rolf Lohmann vor vielen Jahren dort hinsetzte. Kurz zuvor hatte er erfahren, dass er nach Kevelaer versetzt würde. „Er sagte mir, er habe doch für immer in Herzfeld bleiben wollen und sich schon ein Grab auf dem Friedhof ausgesucht.“ Übrigens weinten noch mehr, erzählt Orthues. „Die Frauengemeinschaft saß nebenan im Gastraum bei Kaffee und Kuchen – und alle heulten.“

Der Bierkeller war mal ein Gefängnis

Wenn Maria Orthues erzählt, scheint die Zeit in dem Fachwerkhaus unter dem Basilika-Turm stehen geblieben zu sein. An welcher Stelle der Gasthof-Historie, ist dabei kaum auszumachen. So viele Geschichten haben die Jahrhunderte hergebracht.

Das heutige Gebäude stammt aus dem Jahr 1832.  „Manche behaupten aber, der Vorgänger des Gasthofs habe schon zu Zeiten der heiligen Ida im frühen Mittelalter existiert“, sagt Orthues. Belegen lässt sich das nicht. Wohl aber, dass das Haus viele Funktionen hinter sich hatte, etwa Pilgerhospiz, Flüchtlingsunterkunft und Gerichtsgebäude, bevor es die Familie Orthues 1929 kaufte. „Im heutigen Bierkeller waren Gefängniszellen.“

Maria Orthues heiratete ein und war neben Beruf und Mutterschaft lange Zeit wichtige Kraft des Familienunternehmens, bevor sie 1994 den Gasthof zusammen mit ihrem Mann übernahm. „Mein Platz war hinter der Theke und in der Küche. Sein Platz war der mit den vielen Abrechnungen am Schreibtisch.“

„Tante Ida“ hilft immer noch

Ein Leben so wenige Meter neben der Gruft der heiligen Ida strahlte aus, bis heute: „Ich gehe immer noch fast täglich zur Tante Ida“, sagt Orthues. Das meint sie nicht despektierlich. Im Gegenteil – in ihrer Wortwahl zeigt sich ihre große emotionale Nähe zur Heiligen. Sie ist die Schutzpatronin der Schwangeren, Armen und Schwachen. „Als Mutter kannst du bei ihr einiges loswerden.“ Das tun immer noch viele junge Frauen, weiß sie. „Tante Ida hat nichts an Ausstrahlung verloren.“

Die Wallfahrt und das kirchliche Leben aber sind anders geworden, sagt Orthues. So anders, dass auch der Gasthof viel von seiner Bedeutung darin eingebüßt hat. Es kommen weniger Pilgergruppen. „Früher waren es vier in der Woche, heute kommt alle vier Wochen eine.“

Auch viele Gruppen und Vereine aus der Pfarrei sind kleiner geworden, haben sich zum Teil aufgelöst. Vor einigen Jahren gab es ein neues Pfarrheim in Herzfeld. Auch dorthin sind Veranstaltungen umgezogen. Die Corona-Pandemie hat dem Betrieb letztlich vollends ausgebremst.

Kein Gottesdienst, kein Frühschoppen

Orthues bringt die Situation des Gasthofes auf den Punkt: „Wenn keiner mehr zur Kirche geht, kommt auch keiner mehr zum Frühschoppen danach.“ Die Zeiten, in denen die Gottesdienstbesucher vor der heiligen Messe ihr Schnapsglas halb leertranken, um die zweite Hälfte danach zu trinken, sind lange vorbei.

Wenn die Wirtsfrau das sagt, klingt das aber nicht verbittert. „Es ist für uns an der Zeit, das ist schon in Ordnung – das viele Gute, das wir hier erleben durften, kann uns keiner mehr nehmen.“

Auch das Sofa zieht aus

Es wird eine Lücke entstehen, wenn Familie Orthues das Haus jetzt verkauft. Denn es geht etwas, dass kein kommendes Angebot oder neues Projekt ersetzen kann - den Charme der Ereignisse in diesem Haus.

Die Räume atmen ihn förmlich: der unebene Holzboden, die alten Dokumente an den Wänden, das grüne Tastentelefon auf der Fensterbank. Bis zuletzt hat Maria Orthues hier den Kaffee noch mit der Hand aufgebrüht. „Auch mal für 300 Gäste.“

Ein wichtiges Andenken werden die Orthues nicht zurücklassen: das grüne Sofa. Es wird mit umziehen in ihre neue Bleibe. Und mit ihm die Geschichten, die es erzählen könnte.

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