Themenwoche "Kinderarmut nebenan" (2)

Auch Münster kennt Armut: Wie kommt es zu den dramatischen Zahlen?

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Kinderarmut ist erschreckend und beschämend für ein verhältnismäßig reiches Land wie Deutschland. Sie lähmt Entfaltungsmöglichkeiten für Familien und Zukunftschancen für junge Leute. Deshalb kümmert sich "Kirche-und-Leben.de" in einer Themenwoche darum. Oft sind sogar elementare Dinge wie Essen oder Kleidung knapp. Auch im vermeintlich reichen Münster, wie der Beitrag über die Situation im Stadtteil Coerde zeigt.

Die Zahlen für Münster sind eigentlich andere: Laut Armutsbericht des paritätischen Wohlfahrtsverbands für das Jahr 2022 rangiert die Stadt in der Armutsbetroffenheit mit etwa 15 Prozent am besseren Ende der Statistik. Im Vergleich: Landesweit liegt der Durchschnitt bei knapp 20 Prozent, Städte wie Dortmund, Essen oder Bochum liegen zum Teil weit darüber. In Münster selbst sind die Verhältnisse allerdings sehr unterschiedlich. Eine Zahl macht dies deutlich: Im Stadtteil Coerde leben knapp die Hälfte der Kinder bis 14 Jahren vom Bürgergeld.

„Diese Zahl steht nicht isoliert“, sagt Michael Mehlich. „Sie spiegelt die Gesamtsituation der Familien in unserem Stadtteil wider.“ Der Caritas-Sozialarbeiter kennt die vielen Faktoren, die zu dieser Situation geführt haben. Er sieht sie auch historisch bedingt. „Es gab einen Bereich, in dem vor Jahrzehnten sozialer Wohnraum für Menschen in prekären Lebensverhältnissen, etwa Sinti und Roma, geschaffen wurden.“ Schnell ergaben sich daraus Vorurteile, der Stadtteil bekam den Ruf des sozialen Brennpunkts.

Deutliche Zahlen

Das war der Ausgangspunkt – Baupolitik, Stadtentwicklung oder Migrationswellen brachten dann eine Eigendynamik. Die Bausubstanz der Trabantenstadt, einst mit Hochhäusern und zentralen Versorgungsangeboten geplant, wurde marode. Die Attraktivität für Hausbauer oder Eigentumswohnungen damit geringer. „Aus dem gut bürgerlichen Umfeld wurde nach und nach ein Stadtteil, in den die Menschen vor allem wegen des billigen Wohnraums kamen.“

Und das waren vor allem jene, die von Sozialleistungen lebten, darunter viele Migranten. Auch das belegen heutige Zahlen: Der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund lag 2020 bei fast 70 Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt mit zehn Prozent mehr als doppelt so hoch wie im gesamten Stadtgebiet.

Die Geschichten hinter den Zahlen

Blick hinaus in seinen Stadtteil: Michael Mehlig ist Caritas-Sozialarbeiter in Münster-Coerde. | Foto: Michael Bönte
Blick hinaus in seinen Stadtteil: Michael Mehlichist Caritas-Sozialarbeiter in Münster-Coerde. | Foto: Michael Bönte

Das sind Zahlen, zu denen Mehlich die Gesichter und Geschichten kennt. „Wenn wir hier von Armut sprechen, sprechen wir über die extreme Version, also vom leeren Kühlschrank.“ Alle anderen Indikatoren der Armut für Kinder und Jugendliche haben durch Pandemie und Inflation ähnliche Intensität erreicht: fehlende Bildungsmöglichkeiten, eingeschränkte Freizeitangebote, schwierige Integration …

Mehlich findet ein Beispiel, an dem das deutlich wird. „Ein Junge wollte nicht zu seinem Schul-Abschlussball, weil er nicht die passende Kleidung dafür bekam – die Mutter war verzweifelt, weil sie das finanziell nicht stemmen konnte.“ Am Ende ging sie selbst nicht hin, um die 50 Euro der Eintrittskarte für die Kleidung zu sparen. „So eine Situation tut richtig weh.“

Es gibt viele weitere Situationen in Coerde, die den Betroffenen richtig weh tun können. Sprachliche Barrieren, finanzielle Probleme, Überschuldungen, belastende Familienverhältnisse, traumatische Migrationshintergründe – all das hat das Potenzial, für Spannungen, Ausgrenzung und Frust zu sorgen. Die Lebenssituation entfernt sich damit weiter von der in anderen Stadtteilen. Es werden Vorurteile bedient, der Ruf wird schlechter, eine Durchmischung mit anderen Wohn- und Lebensverhältnissen schwieriger.

Innere Durchmischung ist schwierig

Es tut sich viel in Münster-Coerde – im Bebauungsplan, bei den sozialen Initiativen, bei den zentralen Versorgungsangeboten. Doch bis zu einer wirklich anderen Struktur wird es noch viel Zeit benötigen, sagt Mehlich. „Denn eine gewisse Sogwirkung bleibt für Menschen, die billigen Wohnraum suchen oder aber auch gleichsprachige Nachbarn, also Migranten.“

Auch die innere Durchmischung sei nicht leicht. „Wenn Menschen mit anderem sozialen Hintergrund hier wohnen, heißt es noch lange nicht, dass sie ihre Kinder in den Fußballverein oder die Schule schicken, in denen die Kinder aus prekären Verhältnissen sind.“

Wertschätzung ist wichtiges Ziel

Bei allen Schwierigkeiten: Die Konzentration der von Armut betroffenen Menschen hat in den Augen von Mehlich auch einen Vorteil. „Die Stigmatisierung ist hier kein großes Problem.“ Armut ist in Coerde bekannt und kein Makel. Es wird für die Betroffenen einfacher, dazu zu stehen und sich Hilfe zu holen. „Es schämt sich keiner, nach Unterstützung für das Kopiergeld in der Schule zu fragen.“

Atmosphärisch sei das enorm wichtig, sagt Mehlich. „Es schwingt Wertschätzung dem anderen Betroffenen gegenüber mit.“ Genau das ist auch eine wichtige Ausstrahlung der Caritas-Angebote in Coerde, die mit vielen anderen Akteuren gut vernetzt und vielfältig sind. „Wir wollen den Menschen helfen, ihre Situation zu meis­tern und ihnen damit Eigenständigkeit vermitteln.“

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