Politikwissenschaftler über Kindergrundsicherung und Zeitenwende

Armutsforscher Butterwegge: Was es braucht, um Kinderarmut abzuschaffen

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Die ab 2025 geplante Kindergrundsicherung soll Familien den Weg aus der Armutsfalle bahnen. Wie viel Geld wird dafür zur Verfügung stehen? Was würde benötigt, um Kinderarmut in Deutschland abzuschaffen? Antworten von Deutschlands bekanntestem Armutsforscher Christoph Butterwegge. 

Herr Butterwegge, über wie viele Kinder in Armut reden wir eigentlich? 

Die aktuellsten Daten stammen aus 2021, sie zeigen einen historischen Höchststand: 21,3 Prozent und damit mehr als 2,9 Millionen der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren wuchsen in Familien auf, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügten. Eine Alleinerziehende mit einem Schulkind musste mit unter 1.489 Euro monatlich auskommen, ein Paar mit zwei Schulkindern unter 2.405 Euro. 

Wo sehen Sie den Mindestbedarf eines Kindes? 

Er liegt deutlich oberhalb der Regelsätze des am 1. Januar 2023 eingeführten Bürgergeldes. Theater, Kino, Zoo, Zirkus oder Kirmes – auch das müssen Eltern ihren Kindern ermöglichen können. Je nach Alter kommen dafür 100 bis 150 Euro monatlich zusammen. Kita, Schule, Ganztagsbetreuung, Mittagessen und Mobilität müssen kostenfrei, die soziale Teilhabe, Bildung und kulturelle Angebote selbst für Mitglieder armer Familien bezahlbar werden. 

Trauen Sie der Kindergrundsicherung entscheidende Verbesserungen zu? 

Das hängt davon ab, wie sie konstruiert ist. Damit die Kindergrundsicherung das Armutsproblem vieler Familien lösen kann, ist mehr nötig als eine Zusammenfassung der bisherigen familienpolitischen Leistungen, unter denen Armut fortbesteht. Sie muss die verdeckte Armut auch solcher Familien bekämpfen, die etwa mangels Informationen, aus Furcht vor den Behörden, aus Stolz oder wegen falscher Scham keine ihnen zustehenden Transferleistungen beantragt haben. 

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bietet zwei Milliarden Euro für die Einführung der Kindergrundsicherung, Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) hält 12 Milliarden für angemessen. Was meinen Sie?

Mit den zwei Milliarden Euro, die Christian Lindner für ausreichend hält, könnte man höchstens eine Automatisierung, Entbürokratisierung und Digitalisierung des Leistungssystems für Kinder realisieren. Eine armutsfeste und bedarfsgerechte Kindergrundsicherung ist teurer, als Lisa Paus mit Rücksicht auf die FDP und den Bundesfinanzminister veranschlagt hat. Sie würde eher 20 als zwölf Milliarden Euro jährlich kosten. 

Wer sollte das Geld in die Hand bekommen? Die Eltern fürs Haushaltsportemonnaie? Oder Kita und Schule, um das Niveau von Bildung, Betreuung und Freizeit zu heben? 

Zur PersonProfessor Dr. Christoph Butterwegge.
Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 als Professor Politikwissenschaft an der Universität Köln gelehrt. Zuletzt sind von ihm die Bücher „Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ und „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ erschienen. | Foto: Raimond Spekking (via Wikimedia Commons), https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=65817835

Beide, denn man darf das eine nicht gegen das andere ausspielen. In einer Gesellschaft, welche die Teilhabe selbst ihrer jüngsten Mitglieder am sozialen und kulturellen Leben immer stärker von der Inanspruchnahme kommerzieller Angebote abhängig macht, gilt mehr denn je, dass Armut nur mit erheblich mehr Geld für die Familien wirksam zu bekämpfen ist. Selbst die Bertelsmann-Stiftung gelangt zu dem Ergebnis, dass Eltern mehr Geld für ihre Kinder sinnvoll verwenden. Dass die Väter davon einen Flachmann oder einen Flachbildschirm kaufen würden, ist ein Märchen. Eltern, die weder psychisch gestört noch drogenkrank sind, tun fast ohne Ausnahme alles, damit es ihren Kindern besser geht. 

Hohe Mieten killen das Monatsbudget und ziehen einen Rattenschwanz an Folgeproblemen hinter sich her. Was muss dringend geschehen? Das Wohngeld erhöhen? Die Wohnungswirtschaft regulieren? Staatlich geförderten Wohnraum schaffen?

Von der Wohngelderhöhung halte ich wenig, weil sie letztlich die Vermieter reicher macht. Nötig sind ein anderer Umgang mit dem Boden und ein öffentlicher Wohnungsbau nach dem Vorbild der Stadt Wien, um die Mieten in den Groß- und Universitätsstädten auf einem für Familien erträglichen Niveau zu halten. Außerdem kann die in Berlin von einer Mehrheit der Bevölkerung geforderte Überführung großer Immobilienkonzerne in Gemeineigentum dazu beitragen, dass Wohnungen nicht zum Spekulationsobjekt werden.

Um auch 2024 die „Schuldenbremse“ einzuhalten, hat das Bundeskabinett Kürzungen in fast allen Einzelhaushalten beschlossen. Was bedeutet das für den Kampf gegen Kinderarmut? 

Betroffen davon ist etwa das „Startchancenprogramm“, mit dem 4.000 Schulen in sozial stark belasteten Quartieren besser ausgestattet werden sollen. Wie es scheint, folgt der außen-, energie- und militärpolitischen Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach Beginn des Ukraine-Kriegs erklärt hat, eine sozialpolitische Zeitenwende auf dem Fuß. Wenn gigantische Rüstungsausgaben geschultert werden sollen, wird es kaum möglich sein, die gewaltigen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen die Ampel-Koalition steht: Sie muss ihren Beitrag zur Eindämmung der verharmlosend „Klimawandel“ genannten Erderhitzung leisten, die Modernisierung der Infrastruktur unseres Landes vorantreiben und dessen Armutsprobleme lösen. Umgekehrt dürfte es noch mehr Abstriche von dem ohnehin wenig anspruchsvollen Programm der Regierungsparteien auf Feldern wie der Sozial- und Familienpolitik geben.

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