Themenwoche Armut (7) - aus dem Oldenburger Land

Armut hautnah: Wenn die Einschulung bei der Mutter Angst auslöst

Anzeige

Sie kennt das. Schon ihre Mutter lebte als Alleinerziehende von Sozialhilfe. Jetzt steht auch sie selbst mit ihren beiden Kindern allein da. „Ja, ich bin arm“, sagt die Frau und dass sie alles tut, damit es ihren Kindern später anders geht. Einfach ist das nicht. Vor allem die Einschulung ihrer Tochter macht ihr Sorgen.

„Ich habe jetzt schon Angst“, sagt Judith Müller (Name geändert) und hält ihrem Dreijährigen das Fläschchen hin. Draußen nieselt es. Trotzdem ist sie an diesem Freitagmorgen in die Beratungsstelle der Caritas gekommen. Weil die 32-Jährige von sich erzählen will: wie das ist, als Alleinerziehende auf Hartz IV zwei Kinder durchzubringen. Der Kleine nuckelt auf ihrem Arm, die Große ist heute früh im Kindergarten. Nach dem Sommer soll sie in die Schule kommen. Und genau darum drehen sich derzeit ihre Sorgen.

„Ich weiß ja schon jetzt, dass das teuer wird.“ Aber eben noch nicht, woher sie das Geld nehmen soll. In der Stadt hat sie sich schon mal nach Schulranzen umgesehen. „Keine Ahnung, wie ich das bezahlen soll.“ Und auch nicht, wie das für ihre Tochter sein wird, wenn alle Mitschüler mit einem nagelneuen Modell kommen, „und sie mit einem gebrauchten von Ebay“.

Kopiergeld, Malkasten, Klassenfahrten

Und dann erst die Einschulung. Was soll sie in die Schultüte stecken? Wird es wie bei den meisten anderen Erstklässlern wenigstens ein kleines Fest zu Hause geben, wenn schon kein Essen im Restaurant wie bei den anderen? Und danach erst! Der Kindergarten ist noch umsonst. Das Essensgeld übernimmt das Jobcenter. Sie selbst bezahlt nur 4,50 Euro für Getränke und Bastelsachen. In der Schule kommt einiges hinzu: Kopiergeld, Hefte, Malkasten, Klassenfahrten. Judith Müller zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung, wie ich das machen soll.“

Jetzt, fünf Tage vor Monatsende, hat sie noch etwas mehr als 20 Euro im Portemonnaie. „Das muss und wird auch ausreichen!“, sagt sie mit entschlossener Stimme. „Der Monat war eben teuer.“ Bei einem Discounter hat sie Lauflernschuhe für den Kleinen besorgt. „Die waren auf 18 Euro heruntergesetzt.“ Die Große brauchte Winterstiefel. Auch für sie hat sie ein Schnäppchen gefunden. Einerseits freut sie sich.

Zu dritt 600 Euro zum Leben

Um so etwas zu bezahlen, muss sie aber anderswo sparen, meistens an sich selbst. „Meine Kinder haben alles, ich habe nichts“, sagt die Frau mit dem schmalen Gesicht und den kurzen, dunklen Haaren. Jetzt im Winter fällt ihr das besonders auf: „Ich habe keine Winterjacke, auch keine Winterschuhe oder Stiefel. Nur Sneakers. Weil ich mir die Sachen abknapsen müsste.“

Judith Müller rechnet vor: Vom Jobcenter bekommt sie etwa 800 Euro, dazu 438 Euro Kindergeld und 174 Euro als Unterhaltsvorschuss für den 3-jährigen Sohn. Der Vater ihrer Tochter zahlt 247 Euro. Wenn von den zusammen rund 1.650 Euro die Miete für die 74-Quadratmeter-Wohnung und alle anderen laufenden Kosten abgezogen sind, bleiben der dreiköpfigen Familie 600 Euro zum Leben. „Das muss ich mir gut einteilen.“

Gesperrte Karte an der Supermarktkasse

Und auch wenn es nicht viel ist – sie muss den Überblick behalten. Denn das Geld kommt nicht auf einen Schlag. Der Unterhaltsvorschuss drei Tage vor dem Monatsende. Am Monatsersten folgen das Geld vom Jobcenter und das Kindergeld etwa eine Woche später. Mittlerweile hat sie sich darauf eingestellt. Auch, weil sie einmal an der Kasse stand und nicht zahlen konnte. Das Konto war überzogen. „Das war sehr unangenehm. So etwas will ich nicht noch mal erleben.“

„Ja, ich bin arm.“ Judith nickt. Einen Moment später fügt sie lächelnd an: „Aber ich bin auch reich. Dadurch, dass ich zwei glückliche Kinder habe.“ Zwei Kinder von zwei Vätern. Mit dem ersten war sie sechs Jahre zusammen. Da hatte sie für kurze Zeit geglaubt, sie hat es geschafft.

Affäre beendet Beziehung

Das Paar wohnte schon zusammen, er verdiente ganz gut. So hätte es weitergehen können. Bis sie das mit seiner Affäre herausfand, und dass die Sache schon länger ging. Sie selbst war gerade mit der Großen im dritten Monat schwanger. „Ich bekam erstmal einen Schreikrampf und wollte nur noch raus aus der gemeinsamen Wohnung.“ Damals suchte sie sich zum ersten Mal Hilfe bei der Caritas.

Mit dem Vater ihres Jüngsten hat sie so gut wie keinen Kontakt mehr. „Es war eine ganz kurze Geschichte mit ihm. Alkohol war auch im Spiel. Dann ist es halt passiert.“ Eine Abtreibung kam für sie nicht infrage. „Wer Spaß haben kann, der kann auch dafür geradestehen“, sagt die Mutter.

Sie freut sich auf eine Mutter-Kind-Kur

Das bedeutet derzeit aber eben auch: sich irgendwie durchzuschlagen. In ihren Job konnte die gelernte Bäckereifachverkäuferin bisher nicht zurück. Eine Zeitlang holte sie sich Lebensmittel von der Tafel. In ihrer ersten Schwangerschaft hat die Caritas-Beraterin ihr eine Soforthilfe von tausend Euro über eine private Stiftung vermittelt. Und auch das, wovon sie immer noch schwärmt: eine Mutter-Kind-Kur. Ein paar Wochen im Harz. Abstand von Alltag und Sorgen.

Die reißen derzeit nicht ab. Im Oktober hat ihre Waschmaschine den Geist aufgegeben, ein Super-Gau für die kleine Familie. „Die Schmutzwäsche der Kinder stapelte sich schon. Ich brauchte möglichst schnell eine neue.“ Der Antrag auf einen Zuschuss vom Jobcenter dauerte ihr zu lange. Dass die Caritas ihr vielleicht hätte helfen können, wusste sie nicht. Also lieh sie sich das Geld notgedrungen von Freunden und Bekannten zusammen und kaufte für 300 Euro das billigste Modell.

Angst vor der Stromrechnung

„Die braucht hoffentlich auch nicht so viel Strom wie die alte“, sagt Judith Müller. Denn auch der Gedanke an die Jahresrechnung von ihrem Energieversorger sitzt ihr im Nacken. Wenn womöglich eine üppige Nachzahlung fällig wird. „Wie soll ich das bezahlen?“ Die Frage muss ebenso unbeantwortet bleiben wie die nach den neuen Reifen für ihren zehn Jahre alten Kleinwagen. „Die sind nämlich auch blank“, sagt sie.

Manchmal ist das alles wie eine Zeitschleife für sie. Geldsorgen, ohne Vater aufwachsen, von der Hand in den Mund leben – das alles hat auch ihre eigene Kindheit geprägt. „Meine Mama lebte auch von Sozialhilfe.“ Der Vater hatte die Familie verlassen. „Da waren wir drei Kinder eins, fünf und sechs.“ Auch zu Hause saß das Geld immer knapp. „Wir hatten drei Barbies, die wir uns geteilt haben. Ich habe die Schuhe von meiner Schwester aufgetragen.“

Sie will ihre Kinder stark machen

„Nein“, sagt Judith Müller, „ungerecht empfinde ich das alles nicht. Vieles ist eben einfach Schicksal.“ Aber sie hat den Willen, dagegen anzukämpfen. Vielleicht ist sie deshalb so darauf bedacht, dass es ihren Kindern besser geht. Ihnen soll es an nichts fehlen. „Ich will sie stark machen. Dafür tue ich alles.“

Mit Stolz in der Stimme sagt sie: „Meine Tochter hat ein kleines Trampolin im Zimmer und ein großes draußen.“ Das hat sie im Internet gekauft, für 500 Euro. Im Moment zahlt sie auch noch ein Spielgerüst für den Garten ab, 50 Euro im Monat. Damit die Kinder in der Pandemie zu Hause spielen können. „Die Große konnte ja zehn Wochen nicht in den Kindergarten“, sagt sie und klingt, als müsse sie sich dafür entschuldigen.

Wenn sie Hilfe braucht, geht sie zur Caritas-Beratungsstelle. Die Beraterinnen haben ihr immer mal helfen können. Mit Informationen, mit Geld aus Hilfsfonds für Einzelfälle. Und vielleicht bald noch einmal mit der Vermittlung einer Mutter-Kind-Kur. „So etwas möchte ich auch jeden Fall noch einmal machen.“

Anzeige