Chefredakteur Markus Nolte über Krieg, Corona - und Könige der Verdrängung

Der Tod ist so präsent wie lange nicht - darum sind Friedhöfe so wertvoll

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Rund drei Viertel der Deutschen halten herkömmliche Friedhöfe für unzeitgemäß. Sie wünschen sich mehr Freiheit im Umgang mit Tod und Toten. Chefredakteur Markus Nolte sieht darin einen weiteren Beweis für Verdrängung und Tabuisierung - woran die Kirchenkrise ihren ganz eigenen Anteil hat.

Jeden Abend, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, fahre ich am Friedhof vorbei. Direkt an der Hauptstraße, gleich hinterm Ortseingangsschild unseres Dorfes. Ich nehme das jeden Tag sehr bewusst wahr: Auf dem Weg aus dem trubeligen Redaktionsalltag ins heimische Nest liegt der Friedhof. Manchmal erschreckt er, mitunter mahnt er, häufig klärt er Grenzen. Zwischen dem, was gerade wichtig erscheint, und dem, was letztlich zählt. Dieser Friedhof auf meinem abendlichen Weg nach Hause ist bei weitem nicht nur ein Ort für die Toten.

In wenigen Tagen ist es zehn Jahre her, dass meine Mutter starb. Mein Vater folgte ihr vor sechs Jahren. Bald darauf tötete eine schwere Krankheit einen langjährigen, nahezu gleichaltrigen Freund. Nur Wochen später war mein eigenes Leben bedroht, völlig unerwartet. Es ist gut gegangen, wie man so sagt. Nach diesen vier unmittelbaren Todes-Erfahrungen hat sich viel verändert. In meinem Leben. Und in meinem Verhältnis zum Tod.

Jeder, der dies liest, hat überlebt

Als er uns dann allen so nah kam wie lange nicht, vor fast drei Jahren, als er buchstäblich stets und ständig jeden erwischen konnte, weil wir völlig ungeschützt einem brutal tödlichen Virus ausgesetzt waren – da gab es ein großes Erschrecken und eine grundtiefe Angst. Denn viele, sehr viele starben. Jeder kennt einen. Jeder, der dies liest, hat überlebt.

Dann kam der Angriffskrieg Russlands in unser Europa. Seitdem sind perfide Luftangriffe, bestialische Erschießungen auf offener Straße und ein atomarer Overkill wieder verflucht präsent.

Der Tod unter Aufwands-Abwägungen

Der Tod ist uns so nah gekommen wie lange nicht. Und doch: Dass wir ihn endlich an uns heranließen, ihn endlich ernst nähmen, dass wir uns ihm stellten als die große, entscheidende Frage unseres Lebens – nix da, wir bleiben bedauernswerte Könige der Verdrängung. Grabpflege, das respektvolle Andenken eines Menschenlebens stehen wie selbstverständlich unter Aufwands-Abwägungen – eine Entwicklung, die längst auch in altes, krankes oder einfach müdes Leben eingesickert ist, Stichwort „assistierter Suizid“.

Zugleich halten drei Viertel der Deutschen etablierte Friedhöfe in unseren Städten und Gemeinden für unzeitgemäß und träumen von Urnen im Wald oder Asche im Meer, fernab unseres Lebensalltags.

Eine ganze Kultur stirbt

Wo bewährte, christliche Rituale offenkundig nicht mehr durchdringen - auch, weil die Kirche ihre und die Glaubwürdigkeit einer mühsam zu erringenden Botschaft von Hoffnung, ewigem Leben, Auferstehung verspielt hat -, da stirbt eine Kultur, die das Leben ganz, also gerade in seinen Gebrochenheiten ernstzunehmen vermag.

Auch für diese Lebenskompetenz steht der Friedhof auf meinem abendlichen Weg nach Hause. Mich macht das demütig, gelassen, dankbar - und bereichert mein Leben. Und ich wünschte diese Erfahrung jeder und jedem in dieser Zeit, in der uns der Tod so nahe kommt, wie lange nicht.

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