Themenwoche "Rechtsruck in Deutschland" - Was unsere Gesellschaft jetzt braucht (5)

Elmar Salmann: AfD nutzt die stete Selbst-Überforderung der Gesellschaft

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Das Erstarken der AfD und damit rechtsradikaler, rassistischer und antidemokratischer Positionen in Deutschland beunruhigt. Wie ernst ist die Situation? Wie widerstandsfähig die Gesellschaft? Was kann die Kirche tun? Kirche-und-Leben.de fragt in einer Themenwoche kluge Köpfe nach ihrer Einschätzung. Jeden Tag. Heute: der Philosoph und Theologe, Professor und Mönch Elmar Salmann OSB, Abtei Gerleve.

Pater Elmar, ähnliche Entwicklungen wie in Deutschland sehen wir in Italien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden, in Polen, Ungarn, auch in Russland und den USA. Wie deuten Sie das?

Darauf kann man nur sehr vielschichtig antworten. Wir hatten 1990 gemeint, unser westliches parlamentarisches, menschenrechtlich orientiertes, demokratisches System hätte gewonnen und sei die Zukunftskultur. Das konnte etwa zehn Jahr lang so scheinen – in Italien brach es aber damals schon zusammen. Dann stellte sich heraus, dass die Demokratie eine ungeheuer anstrengende Organisationsform der Gesellschaft ist.

Zugleich ist der demokratische Mensch entstanden – also einer, der sich vom anderen her denkt: Jeder ist etwas absolut Besonderes, muss als solches gefördert werden, alle sind restlos gleich, jede Minderheit muss beachtet werden. Doch diese anthropologische Lebensform unterhöhlt die repräsentative Demokratie mit ihren Parteien, hochkom­plexen Koalitionsverhandlun­­gen und Kompromissnotwendigkei­ten. Solche Bewegungen steigern nur die Unübersichtlichkeit und wecken damit die Sehnsucht nach dem starken Mann.

Eine damit einhergehende Entwicklung: Wenn man zu den Differenzierungen der Demokratie nicht mehr fähig ist, die Welt sich vielmehr in Wutbürger und Auserwählte aufteilt, in Gut und Böse, man einander nicht mehr gelten lassen kann – wie wir es allenthalben erleben, in den USA, in der Kirche, in Deutschland –, dann ist das der Tod der Demokratie, des Einander-Verstehens und fördert das Totalitäre. Dann müssen die Einen absolut siegen.

In aktuellen Umfragen landet die AfD bei 21 Prozent. Wie konnte es 78 Jahre nach Ende der Nazi-Diktatur dazu kommen?

Die AfD ist eine Partei, die sich vom Ressentiment und von Traumata nährt. Zudem habe ich den Eindruck, dass mit unserer offenen, vielschichtigen und auf Perfektion getrimmten Gesellschaft fast alle überfordert sind, wie die vielen Burn-Outs zeigen. Wir dachten, dass alles funktioniert – das Gesundheitssystem, die Wirtschaft, die Kommunikationsanforderungen, der Friede, die Bewältigung der Flüchtlingskrise und dann auch noch die Lieferketten. Doch wir sehen: Wir sind dem schlichtweg nicht gewachsen. Auch die Parteien, auch die Politik nicht. Dass sich da viele Menschen eine einfachere Welt wünschen, eine Komplexions-Reduktion, wundert nicht. Wer da hinein Lösungen anbietet, auch wenn sie keine sind, hat gute Karten. Den Regierungstest muss die AfD ja noch bestehen.

Auch in der katholischen Kirche gibt es Tendenzen zu einem konservativ-abgrenzenden Profil, Experten sprechen auch hier von einem Rechtsruck. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Elmar Salmann hat 30 Jahre lang in Italien gelebt, war Professor für Theologie und Philosophie an mehreren internationalen Hochschulen in Rom und ist bis heute in politischen und intellektuellen Kreisen hoch angesehen. Als Mönch beobachtet er zugewandt-distanziert die Zeitläufte auch hierzulande.

Das ist eine seelengeschichtlich parallele Entwicklung. Der heutigen pastoralen Lage mit so vielen verschiedenen Gruppen und Lebensläufen stand zu halten und einen Raum zu gewähren, ohne die Kontur zu verlieren, ist nicht einfach. Auch da gilt der Reiz der leichteren Lösung – etwa mit Blick auf die Liturgie, die Lehre, die Moral. Sie bestehen auf einer kirchlichen Geschlossenheit, die allerdings eine Fiktion ist. Denn sie verkennen, dass sie nur ein postmodernes Versatzstück in der kirchlichen Landschaft sind, halten sich aber für das Integral. Eine optische Täuschung.

Im westfälisch-katholisch geprägten Münsterland bekommt die AfD nach wie vor keinen Fuß auf den Boden. Wie erklären Sie sich das?

Wir haben als katholische Kirche das Internationale, wir wissen um ganz andere Kulturen. Ein gelassener, empfänglicher, freigiebiger Umgang mit einer jeden Meinung, einem jeden Menschen – das gehört eigentlich in die DNA eines katholischen Kulturverhaltens. Und ich meine, es gehörte zu uns Christen auch die angewandte Relativitätstheorie aller Dinge: das Einverstanden-Sein mit der Endlichkeit, die aber nicht das Unendliche ist. Wir haben noch einen Horizont, der über das Endliche hinausreicht, daher muss das Endliche nicht alles hergeben. Parteien, die sich als die Lösung, als Endlösung präsentieren, haben da wenig Chancen. Das widerspricht dem katholischen Stilgefühl.

Was hätte die Kirche diesem Rechtsruck entgegenzusetzen?

Wir hätten den Menschen zuzusprechen, dass sie stolz auf sich sein können. Dass wir in einer guten Gesellschaft leben, für die wir dankbar sein müssen. Zudem: Wir haben nichts mehr, auf das wir kollektiv stolz sein können. Da gab es früher mehr Zugehörigkeit – zur Partei, zur Herkunft, zur Familie, zur Kirche. Das ist völlig weggebrochen. Jeder kann nur noch stolz sein auf das, was er selber darstellt. Das muss überfordern. Doch daran wird sich so schnell nichts ändern. Für Minderheiten ist das anders, aber für den Normalbürger ist nichts mehr übriggeblieben. Auch davon profitiert die AfD.

Welche Durchschlagskraft hat die katholische Kirche trotz ihres Relevanzverlusts in dieser Frage gesamtgesellschaftlich noch?

Im Moment gar keine. Aber wenn wir weisheitlich-ermutigend daherkommen, vielleicht eher. Zumal wir unseren eigenen Erfahrungsbericht vom absoluten Niedergang zu erzählen haben. Die Verzweiflung haben wir gewissermaßen hinter uns, der Ausgang ist noch offen. Aber wir können schauen, welche Türen sich aufmachen und zumachen und uns tastend, empfänglich, staunend, verwundbar, mutig und demütig voranbewegen und diese unsere Geschichte erzählen.

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