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Das Erstarken der AfD und damit rechtsradikaler, rassistischer und antidemokratischer Positionen in Deutschland beunruhigt. Wie ernst ist die Situation? Wie widerstandsfähig die Gesellschaft? Was kann die Kirche tun? Kirche-und-Leben.de fragt in einer Themenwoche kluge Köpfe nach ihrer Einschätzung. Jeden Tag. Heute: die Sozialethikerin und Theologin Marianne Heimbach-Steins. Sie leitet das Institut für Christliche Sozialwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.
Frau Heimbach-Steins, in bundesweiten Wahlumfragen steht die AfD mit mehr als 20 Prozent auf Platz 2. Zugleich sieht Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang klar verfassungsfeindliche Positionen in der AfD. Wie gefährlich ist die Situation?
Die zunehmend unverhohlene rechtsextreme Ausrichtung der Partei greift die demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft und der EU gezielt an. Sie richtet sich gegen alles, was für eine sozial gerechte und ökologisch tragfähige Zukunftsentwicklung notwendig ist. Die ökologische Krise und die Notwendigkeit eines grundlegenden Umsteuerns zu leugnen, die Nähe zum Kriegstreiber Putin und das programmatische Streben nach Abschottung Europas sind absichtsvolle politische Verwirrstrategien.
Die Gesellschaft wirkt erschöpft: Corona, Krieg, Klima, Flüchtlingsbewegungen und Wirtschaftsflaute setzen den Menschen zu. Idealer Nährboden für eine schleichende Radikalisierung?
Inflation, Wohnungs- und Energienot, fehlende Unterstützung für Familien in Kinderbetreuung und Pflege – all das macht das Leben für viele Menschen schwer. Politisch Verantwortlichen fehlt offenbar häufig die nötige Sensibilität für die prekären Lebenssituationen vieler Menschen. Eine Regierung, die sich immer wieder in Hahnenkämpfen verrennt, anstatt klar und verlässlich hilfreiche Schritte umzusetzen, bewirkt das Gegenteil dessen, wofür sie da ist. Das arbeitet denen in die Hände, die aus der Verunsicherung für antidemokratische und menschenverachtende Ziele Kapital schlagen wollen.
Deutschland sollte durch seine Geschichte besonders sensibel für antidemokratische Entwicklungen sein. Wie widerstandsfähig sehen Sie die Gesellschaft?
Die deutsche Geschichte bleibt nur dann eine Quelle für die gute Entwicklung und Widerständigkeit unserer Demokratie, wenn das Bewusstsein dafür, dass sie kostbar und verletzlich ist, aktiv wachgehalten wird. Die Stimmen der Zeitzeugen der NS-Diktatur verstummen nun definitiv. Umso mehr stehen die demokratischen Parteien und alle zivilgesellschaftlichen Kräfte in der Verantwortung, antidemokratischen, faschistischen und totalitären Tendenzen entschieden gegensteuern. Rhetorische Schleiertänze mit „Alternativen“ à la Merz halte ich für alles andere als hilfreich.
Auch in der katholischen Kirche gibt es restaurative Tendenzen mit einem Hang zu einem konservativ-abgrenzenden Profil. Welche Überschneidungen der konservativ-katholischen Klientel mit AfD-Positionen sehen Sie?
Es gibt Überschneidungen vor allem da, wo im Namen eines vermeintlich konservativen Profils Ausgrenzung von allem, was „anders“ ist, verfochten wird. Das betrifft etwa den Umgang mit Zuwanderung, mit Arbeitsmigrantinnen und Geflüchteten. Es betrifft die Haltung gegenüber Judentum und Islam. Und es betrifft den Umgang mit geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Eine pauschal ablehnende Haltung gegenüber Menschen, die als anders oder fremd wahrgenommen werden, ist weder konservativ noch katholisch. Den christlichen Glauben für solche Positionen zu beanspruchen, ist eine krasse Verzerrung der Botschaft Jesu.
Dennoch: Im katholisch geprägten Münsterland bekommt die AfD bisher keinen Fuß auf den Boden, bei der Landtagswahl 2022 erhielt die Partei in Münster gerade 2,2 Prozent. Wie erklären Sie sich das?
Wahrscheinlich gibt es verschiedene Gründe. Die religiöse Prägung und eine gewisse Bodenständigkeit der Menschen im Münsterland spielen sicher eine Rolle. In Münster geht es sehr vielen Menschen wirtschaftlich gut; die Stadt hat eine gute Zukunftsprognose. Schließlich ist die Bevölkerung durch eine große Zahl aufgeschlossener, ökologisch und politisch wachsamer Menschen, nicht zuletzt unter den vielen Studierenden, geprägt. Das alles trägt dazu bei, dass rückwärtsgewandten, ausgrenzenden und menschenfeindlichen Tendenzen öffentlich und konsequent die rote Karte gezeigt wird.
Welche Durchschlagskraft hat die katholische Kirche angesichts ihres Relevanzverlusts noch in gesellschaftspolitischen Fragen?
Hausgemachte Krisen haben die Überzeugungskraft der Kirche erheblich geschwächt. Dennoch ist nicht zu unterschätzen, dass die Kirche eine vielfältig in der Gesellschaft verankerte und präsente Institution ist. Sie kann gesellschaftspolitisch wirken und trägt damit auch ein hohes Maß an Verantwortung: In Erziehung und Bildung über Kitas, Schulen und Hochschulen, durch die karitativen Angebote, auch durch die Verbände, die zu gesellschaftspolitischen Themen im vorparlamentarischen Raum Stellung beziehen.
Was raten Sie Verantwortlichen und Engagierten in der Kirche angesichts des Rechtsrucks?
Die katholische Kirche kann ihren Beitrag zur Meinungsbildung und zur politischen Kultur unserer Gesellschaft leisten. Sie darf die Ressourcen, die sie dazu hat, nicht geringschätzen. Entscheidend ist, in den eigenen Reihen die Haltung zu leben, die in Stellungnahmen und Arbeitshilfen zum Umgang mit Rechtspopulismus in und außerhalb der Kirche vertreten wird. Das verlangt aktive Aufmerksamkeit für die tatsächlichen Sorgen der Menschen und zugleich die Bereitschaft zum Konflikt mit Positionen, die dem christlichen Glauben widersprechen.