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Das Erstarken der AfD und damit rechtsradikaler, rassistischer und antidemokratischer Positionen in Deutschland beunruhigt. Wie ernst ist die Situation? Wie widerstandsfähig die Gesellschaft? Was kann die Kirche tun? Kirche-und-Leben.de fragt in einer Themenwoche kluge Köpfe nach ihrer Einschätzung. Jeden Tag. Heute: Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen, Militärbischof und bis 2021 Sozialbischof der Deutschen Bischofskonferenz.
In aktuellen Umfragen landet die AfD bei 21 Prozent und damit auf Platz zwei der Parteien im Bundestag. Zugleich sieht der Verfassungsschutz klar rechtsextreme und verfassungsfeindliche Positionen in der AfD. Wie gefährlich ist diese Situation?
Unsere Demokratie steht in diesen Zeiten massiv unter Druck. Von außen her durch Autokraten, die selbst vor einem Angriffskrieg nicht zurückschrecken. Aber auch von innen her durch jene, die auf die schwierigen Fragen unserer Zeit verlockend einfache und bequeme Antworten anbieten. Diese einfachen Antworten haben alle einen hohen Preis. Sie wollen überzeugen, indem sie das Vertrauen in unsere Demokratie schwächen. Denn sie setzen auf das Recht des Stärkeren und die zerstörerische Kraft der Gleichgültigkeit. Unsere Demokratie hingegen lebt von der Stärke des Rechts und davon, dass Menschen für die Werte eintreten, die unter anderem im Grundgesetz beschrieben sind.
Manche sprechen von einer erschöpften Gesellschaft: Corona, Krieg und Klima, Flüchtlingsbewegungen und Wirtschaftsflaute setzen den Menschen zu. Ein idealer Nährboden für eine schleichende Radikalisierung der Gesellschaft?
Stark steigende Preise für Lebensmittel und Energie, eine drohende schwere Rezession, die Kriege in Europa und auf der Welt sowie die ständige Zunahme gesellschaftlicher Komplexität sind sehr ernstzunehmende Herausforderungen. Das erzeugt Angst und Unsicherheit. Viele Menschen sehnen sich nach den haltgebenden Gewissheiten vergangener Zeiten, die plötzlich nicht mehr gelten. Dabei wird die Vergangenheit zwar meistens verklärt, wenn auch gegen einen verklärenden Blick auf die vermeintlich gute alte Zeit eigentlich nichts einzuwenden ist. Aus der Kraft der Erinnerung wächst immer auch eine neue Stärke für die Gegenwart. In der Gestalt der neuen Rechtsparteien begegnet uns allerdings eine aggressive und gefährliche Version dieser Rückwärtsgewandtheit. Dort wird als ‚einfache Lösung‘ ein nationalistisches und selbstbezogenes ‚neues Wir‘ präsentiert, das durch Abgrenzung funktionieren soll. Natürlich auf Kosten derer, die nicht zu diesem ‚Wir‘ gehören sollen.
Auch in der CDU werden vermehrt AfD-nahe Positionen geäußert, etwa in der Flüchtlingspolitik. Wie passt das zum C im Parteinamen?
Rechte Parteien wählen nicht den Weg des kritischen und vernunftbasierten Diskurses, sondern nutzen vielfach Zerr- und Angstbilder, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Davor kann man alle demokratischen Parteien der Mitte nur eindringlich warnen, denn diese Strategie ist menschenfeindlich. Das gilt insbesondere gegenüber Geflüchteten, die zu Gegnern, ja man muss sogar sagen; zu Feinden des ‚neuen Wir‘ gemacht werden. Neue Rechtsparteien verfolgen das Ziel eines starken und souveränen Nationalstaats mit einer möglichst homogenen Bevölkerung und klar bestimmten Grenzen, die Eindeutigkeit versprechen – geografisch, ökonomisch, kulturell, religiös und privat. Im Weltbild der neuen Rechten widerspricht diesem politischen Versprechen auf neue nationale Stärke dabei keine Gruppe so offensichtlich wie die der Geflüchteten. Sie steht stellvertretend für Mehrdeutigkeit statt Eindeutigkeit, für religiöse und kulturelle Vielfalt statt (scheinbare) Einfachheit und Eindeutigkeit, für grenzüberschreitende Mobilität statt Abschottung und für die Herausforderungen einer globalisierten und vom Klimawandel bedrohten Welt, auf die sich nur gemeinsam Antworten finden werden lassen, die in Zukunft auch tragen können. Dieses nicht einlösbare Versprechen auf Abgrenzung und Eindeutigkeit macht offenkundig, dass rechte politische Angebote die genannten Herausforderungen schlicht und ergreifend ignorieren und an Lösungen auch gar nicht interessiert sind.
In Teilen Ihres Bistums Essen ist eine multikulturelle Gesellschaft längst Realität. Was kann Deutschland von dieser Realität lernen – im Positiven wie Negativen?
Die multikulturelle Gesellschaft ist hier bereits seit mehreren Generationen einfach Realität und bringt natürlich auch Probleme im Zusammenleben mit sich, die nicht verschwiegen werden sollten, zum Beispiel im Bereich der Bildungsgerechtigkeit, der Armutsbekämpfung, aber auch im Bereich der Kriminalität. Insbesondere die Kommunalpolitik hat hier im Ruhrgebiet weiterhin sehr harte Arbeit zu leisten, die aber von den Verantwortungsträgern in dem Bewusstsein getan wird, dass Probleme nur Schritt für Schritt gelöst werden können.
Im westfälisch-katholisch geprägten Münsterland, aus dem auch Sie stammen, bekommt die AfD nach wie vor keinen Fuß auf den Boden, bei der jüngsten NRW-Landtagswahl 2022 erhielt die Partei in der Stadt Münster gerade einmal 2,2 Prozent. Wie erklären Sie sich das?
Eine Erklärung ist sicherlich, dass in der eher wohlhabenden Universitätsstadt Münster viele sehr gut gebildete und international vernetzte Menschen leben, die mit wenig Abstiegsängsten konfrontiert sind. Zusätzlich könnte die katholische Prägung im Münsterland eine gewisse Rolle spielen. Die Stärke der CDU in der Nachkriegszeit war ja unter anderem mit der Klarheit verbunden, dass es stets eine Abgrenzung zu rechten Parteien gab und gibt.
Positioniert sich die katholische Kirche deutlich genug zu diesem Rechtsruck?
Das erlebe ich auf vielen Ebenen und tue es selbst immer wieder in aller Deutlichkeit.
Welche Durchschlagskraft hat die katholische Kirche angesichts ihres Relevanzverlusts in dieser Frage gesamtgesellschaftlich noch?
Wir sind als Kirche in dieser Frage ein gesellschaftlicher Akteur unter vielen und werden hier nur durch gute Argumente überzeugen. Es ist aber überaus wichtig, als Kirche sehr deutlich und vernehmbar im Chor derer mitzuwirken, die entschieden für unsere liberale Demokratie eintreten. Denn es geht um Rechtsstaatlichkeit, um Freiheit, Gleichheit und Würde aller Menschen als Personen, um soziale Marktwirtschaft und letztlich auch immer wieder um die Meinungs- und Religionsfreiheit aller.
Auch in der katholischen Kirche gibt es deutliche restaurative Tendenzen mit einem Hang zu einem klar konservativ-abgrenzenden Profil, Experten sprechen auch hier von einem Rechtsruck. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Diese Entwicklung betrachte ich mit großer Sorge. Ich würde hier allerdings nicht den Begriff konservativ nutzen, denn es geht um religiös-reaktionäre Bewegungen, die meines Erachtens in der Beschreibung eher dem identitären Umfeld zuzuordnen sind. In dieser Dimension sind das recht neue Phänomene, die andere religiöse Deutungen als „Häresien“ abqualifizieren und sich im Besitz der einen absoluten Wahrheit wähnen. In gewisser Weise sind sie in der Tat das religiöse Äquivalent zur neuen politischen Rechten mit nicht selten direkten Verbindungen. Ich unternehme alles in meiner Macht Stehende, um darauf hinzuwirken, dass diese Tendenzen in unserer Kirche möglichst klein bleiben.