Themenwoche "Rechtsruck in Deutschland" - Was unsere Gesellschaft jetzt braucht (1)

Erstarken der AfD: Wiederholt sich Geschichte, Professor Großbölting?

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Das Erstarken der AfD und damit rechtsradikaler, rassistischer und antidemokratischer Positionen in Deutschland beunruhigt. Wie ernst ist die Situation? Wie widerstandsfähig die Gesellschaft? Was kann die Kirche tun? Kirche-und-Leben.de fragt in einer Themenwoche kluge Köpfe nach ihrer Einschätzung. Jeden Tag. Heute: Thomas Großbölting, Historiker und Experte für das 20. Jahrhundert, Hamburg.

In aktuellen Umfragen landet die AfD bei 21 Prozent und damit auf Platz zwei der Parteien im Bundestag. Zugleich sieht Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang klar rechtsextreme und verfassungsfeindliche Positionen in der AfD. Wie gefährlich ist diese Situation?

Die Situation ist bedenklich, ohne dass ich deswegen von einer grundsätzlichen Gefährdung unseres politischen Systems ausgehe. Für alarmierend halte ich, wie völlig unverhohlen verfassungsfeindlich immer größere Teile der Rechtspopulisten auftreten – und wie wenig konsequent darauf mit einer konsequenten Abgrenzung zur AfD reagiert wird. Politisch im Gespräch bleiben muss man mit den Wählern der Partei, aber nicht mit ihren Funkionären.

Manche sprechen von einer erschöpften Gesellschaft: Corona, Krieg und Klima, Flüchtlingsbewegungen und Wirtschaftsflaute setzen den Menschen zu. Ein idealer Nährboden für eine schleichende Radikalisierung der Gesellschaft?

Thomas Großbölting
stammt aus Dingden bei Hamminkeln, wuchs in Bocholt auf und studierte Geschichte, katholische Theologie und Germanistik in Köln, Bonn, Rom und Münster. Von 2009 bis 2020 war er Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Er leitete die vom Bistum Münster in Auftrag gegebene Studie zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch durch Geistliche und dem Umgang mit Missbrauch durch Verantwortliche des Bistums Münster, die 2022 vorgestellt wurde. Seit 2021 lehrt Großbölting an der Universität Hamburg, ist seit 2022 Direktor der dortigen Akademie der Weltreligionen. Eines seiner Forschungsgebiete ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts und des religiösen Wandels im Nachkriegsdeutschland. | mn

Erschöpfung? Schleichende Radikalisierung? Ich bin bei beiden Diagnosen skeptisch, sehe aber einen anderen Zusammenhang als problematisch: Immer weniger Bürgerinnen und Bürger erfahren sich als Teil eines Ganzen, welches politisch handlungsfähig ist und Gesellschaft gestalten kann. Stattdessen schauen viele auf den Staat als Problemlöser und konstatieren dann vor allem dessen Schwäche oder gar Versagen. Demokratie lebt von beidem, der klugen Politik der Regierenden auf den verschiedenen Ebenen ebenso wie vom Mittun der vielen Bürgerinnen und Bürger.

Was sagt der Historiker: Wiederholt sich die deutsche Geschichte?

Nein, Geschichte wiederholt sich zum einen prinzipiell nicht, zum anderen sind wir beispielsweise von den immer wieder beschworenen „Weimarer Verhältnissen“ weit entfernt.

Deutschland sollte durch seine Geschichte besonders sensibel für antidemokratische Entwicklungen sein. Wie widerstandsfähig sehen Sie die Gesellschaft?

Ich halte unsere Gesellschaft für widerstandsfähiger und intakter, als sie medial momentan dargestellt wird. Vielen Bildern der gegenwärtigen Situation liegt eine deutliche Verzerrung zugrunde. Selbst in den Bundesländern, in denen der Rechtspopulismus bei Wahlen besonders starke Ergebnisse einfährt, bewegen sich doch vier von fünf Wählerinnen und Wählern auf dem Boden der Verfassung. Mit dieser Bemerkung will ich die Situation nicht schönreden, sondern im Gegenteil dafür werben, aus einer selbstbewussten Position der Stärke der demokratischen Kultur umso entschiedener die Auseinandersetzung mit Rechts zu führen.

Auch in der katholischen Kirche gibt es deutliche restaurative Tendenzen mit einem Hang zu einem klar konservativ-abgrenzenden Profil, Experten sprechen auch hier von einem Rechtsruck. Welche Überschneidungen dieser konservativ-katholischen Klientel mit AfD-Positionen sehen Sie?

Im Gros des Katholizismus hat die AfD nicht Fuß gefasst – und wird dieses voraussichtlich auch in Zukunft nicht tun. Die systematische Abwertung von Menschen und die extrem nationalistischen Parolen widersprechen der Idee der Nächstenliebe so stark, dass es da keine gemeinsame Basis gibt oder geben sollte. Selbst der wachsende ultrakonservative Teil des Katholizismus ist zwar vor- oder antidemokratisch orientiert, aber weniger im Sinne der AfD völkisch oder nationalistisch.

Dennoch: Im westfälisch-katholisch geprägten Münsterland bekommt die AfD nach wie vor keinen Fuß auf den Boden, bei der jüngsten NRW-Landtagswahl 2022 erhielt die Partei in der Stadt Münster gerade einmal 2,2 Prozent. Wie erklären Sie sich das?

Eine lebendige Zivilgesellschaft, die ihre Wurzeln sowohl im katholischen Milieu wie auch darüber hinaus hat, eine quirlige Universitätsstadt mit viel Kultur und Bewegung, eine in mancher Hinsicht über die Parteigrenzen hinweg kluge Politik beispielsweise bei der Integration von geflüchteten Menschen, das alles versehen mit einem (meistens) nicht bornierten, sondern inklusiven städtischen Selbstbewusstsein – Chapeau, Münster!

Welche Durchschlagskraft hat die katholische Kirche angesichts ihres Relevanzverlusts in dieser Frage gesamtgesellschaftlich noch?

Auf jeden Fall eine schwindende, wofür ein rapider Ansehensverlust wie auch die massive Welle von Kirchenaustritten steht! Und dennoch gilt: Nach wie vor sind die beiden christlichen Großkirchen die Institutionen, die jeden Sonntag viele Menschen auf die Beine bringen, die über den eigenen Horizont hinaus denken und die eigene Gemeinschaft und die Welt positiv zu gestalten suchen. Weniger in der Hierarchie, sondern vor allem an der Basis sehe ich nach wie vor viel Potenzial.

Was raten Sie Verantwortlichen und Engagierten in der Kirche in dieser Situation?

Es ist noch gar nicht lange her, dass die katholische Kirche sich vorbehaltlos auf den Boden der Menschenrechte und der Demokratie gestellt hat. Ausgehend davon gibt es noch viele Baustellen in der Kirche, sich selbst „ehrlich“ zu machen: Frauen und Männer gleichzustellen, queere Menschen nicht zu diskriminieren, interne Entscheidungsprozesse zu demokratisieren und einiges mehr. Und sich dann auf die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe zu besinnen: Kirche ist nicht Selbstzweck, sondern vor allem für die anderen da, die am Rand der Gesellschaft stehen.

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