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Der Zeit der großen Studien über den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche müsse nun eine Zeit der Anerkennung des Leids der Betroffenen folgen. „Wissenschaftliche Studien gibt es mittlerweile genug. Dringender ist es, mit den Betroffenen darüber zu sprechen, wie ihr Leid anerkannt werden kann“, sagte Professor Thomas Großbölting.
Der Historiker sprach vor mehr als 200 Interessierten in der Katholischen Landvolkshochschule in Warendorf-Freckenhorst über das von ihm mitherausgegebene Gutachten zu den Missbrauchsfällen im Bistum Münster durch Priester in den Jahren 1945 bis 2020. Den Gesprächsabend veranstaltete unter anderem das Kreisdekanat Warendorf.
Betroffenen muss geholfen werden
Es sei richtig und notwendig, die Missbrauchsfälle weiterhin wissenschaftlich aufzubereiten, allerdings sollten jetzt andere Prioritäten gesetzt werden: „Die historische Untersuchung ist das Eine. Jetzt sollte mehr darauf geachtet werden, wie den Betroffenen geholfen werden kann. Sie sollten im Mittelpunkt stehen“, sagte Großbölting.
Zwei Jahre hatten er und ein Forscherteam der Universität Münster die Missbrauchsfälle im Bistum Münster aufbereitet, die Archive und Personalakten gesichtet sowie Interviews mit Bistumsverantwortlichen und Betroffenen geführt. Herausgekommen ist ein 600-seitiges Gutachten, das im Juni 2022 vorgestellt wurde.
Umdenken in der Bistumsleitung
Die Ergebnisse brachte Großbölting so auf den Punkt: Bis in die 2000er Jahre hinein habe die bischöfliche Fürsorge nahezu ausschließlich den Tätern gegolten. Das werde deutlich im Handeln des früheren Bischofs Reinhard Lettmann. Erst spät hätte die Bistumsleitung das Leid der Betroffenen in den Blick genommen.
In seiner Bewertung attestierte der Historiker der heutigen Bistumsleitung eine aufrichtige Aufarbeitung und den Willen, jede Form von Vertuschung zu verhindern: „Für unsere Forschung erhielten wir die uneingeschränkte Akteneinsicht. Das Bistum Münster geht den Weg der Transparenz.“
Überhöhtes Priesterbild
Mehr als 200 Interessierte kamen zum Gesprächsabend über die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Kirche. | Foto: Johannes Bernard
Mehrere Faktoren hätten in der Vergangenheit den sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Schutzbefohlenen begünstigt: das überhöhte Priesterbild mit der damit verbundenen Machtstellung, der „Klerikalismus der Laien“ im geschlossenen katholischen Milieu und die Vereinsamung der Priester mit dem daraus resultierenden Bedürfnis, menschliche Nähe zu suchen.
„Nur ein kleiner Teil der Täter ist pädosexuell“, bilanzierte Großbölting. Im untersuchten Zeitraum seien 196 Beschuldigte und 610 Betroffene identifizierbar. Die Dunkelziffer sei allerdings erheblich größer.
Gründe für den Missbrauch
Den „Durchschnittstäter“ charakterisierte der Forscher mit knappen Worten so: Nach mehreren Jahren des Priesterdienstes nehme der Idealismus ab. Die Sehnsucht nach körperlicher Nähe werde stärker. Die Lebensform werde hinterfragt. Die Sexualmoral der Kirche sei ein Hindernis bei der Selbstreflexion. Der Täter suche sein Opfer im unmittelbaren Umfeld in der kirchlichen Jugendarbeit, bei den Messdienern, in den Ferienlagern.
In der Diskussion kritisierten Teilnehmende die Sexualmoral der Kirche und forderten eine schonungslose Debatte über das Versagen. Zwei Betroffene berichteten von ihren Schwierigkeiten, Gehör bei der Bistumsleitung zu finden, und bemängelten den Willen, das Leid anzuerkennen.
Persönlichkeitsrechte der Beschuldigten
Die Bücher „Die schuldigen Hirten - Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche“ von Thomas Großbölting und „Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche - Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum Münster seit 1945“ von Bernhard Frings, Thomas Großbölting, Klaus Große Kracht können Sie hier bei unserem Partner Dialog-Versand bestellen.
Zur Sprache kamen auch Fälle, bei denen beschuldigte Priester im Dienst belassen würden und in Orten lebten, wo sie die Betroffenen begegneten. Auf diese Fälle angesprochen, meinte Großbölting, dass rechtsstaatliche Grundsätze zu beachten seien. Es gelte, Persönlichkeitsrechte zu wahren.
Die Moderatorin der Veranstaltung, Kerstin Stegemann, verwies auf die Notwendigkeit, wachsam zu bleiben, „damit Missbrauch keinen Platz in der Kirche hat“. Es gelte, sensibel für das Thema zu sein und Kinder zu schützen. Stegemann, die mehrere Jahre das Diözesankomitee der Katholiken im Bistum Münster leitete und Mitglied des „Synodalen Wegs“ ist, bekräftigte ihre Haltung in Bezug auf Reformen der kirchlichen Sexualmoral.