Wie sie ihre Religion lebt und Halbwissen zum Judentum durch Wissen ersetzt

Jung und jüdisch: Der ganz normale Alltag von Karolina Becker

  • Viele Menschen kennen das Judentum nur aus Büchern.
  • Karolina Becker will ein anderes Bild vermitteln.
  • Die 19-Jährige aus Osnabrück erzählt, wie sie ihre Religion im Alltag lebt, warum sie in Schulklassen geht und mit einer Muslimin befreundet ist.

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Kein Handy, kein Computer, kein Fernsehen. Am jüdischen Feiertag Schabbat verzichtet Karolina Becker auf technische Geräte. Jegliche Arbeit ruht. Aber genau das, schwärmt sie, mache den Samstag zum schönsten Tag der Woche – weil sie sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren könne: Familie, Gemeinschaft, Glaube.

Wer ihr zuhört, merkt schnell: Diese aufgeschlossene, selbstbewusste 19-Jährige hat Freude an ihrer Religion. Sie erzählt davon an ihrer Schule – dem Ratsgymnasium in Osnabrück –, in anderen Schulklassen und Jugendgruppen, in öffentlichen Talkrunden und sogar im Fernsehen. Ein Filmteam drehte mit ihr und zwei weiteren jungen Osnabrückern im vergangenen Jahr für die ZDF-Dokumentation „Hey, ich bin Jude. Jung. Jüdisch. Deutsch“.

 

„Ein Teil ist jüdisch“

 

Aber das Jüdischsein allein, sagt sie, mache sie nicht aus. Oft stellt sie sich so vor: „Ich bin Karolina, und ein Teil von Karolina ist jüdisch.“ Zurzeit lernt die junge Frau für das Abitur. „Wir sind jetzt auf der Zielgeraden, der 15. April ist unser letzter Schultag“, sagt sie mit einem Lächeln. Ihr Jahrgang ist der einzige mit täglichem Präsenzunterricht. „Einerseits schön, weil ich meine Freunde sehen kann, andererseits anstrengend, weil wir keinen Ausgleich haben. Irgendwann mag man nicht mehr spazieren gehen.“

Corona bremst auch ihre ehrenamtliche Arbeit aus. Und die ist sehr umfangreich: Karolina Becker leitet das Jugendzentrum in ihrer jüdischen Gemeinde, betreut Ferienlager der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland; sie ist aktiv im jüdischen Sportverein und im interreligiösen Dialog ihrer Heimatstadt.

 

Ihre Freundin ist Muslimin

 

In einem dieser Projekte treffen sich jüdische und muslimische Jugendliche. Sie reden über ihre Religion, aber viel mehr über das, was sie im Alltag verbindet. Auf diese Weise lernte Karolina Becker eine ihrer besten Freundinnen kennen: Jasmin Zeitun. „Viele sagen, dass unsere Freundschaft besonders ist. Aber das ist sie nicht, weil wir Jüdin und Muslimin sind, sondern weil wir uns einfach supergut verstehen und ähnliche Interessen haben.“

Die beiden jungen Frauen sind sogar in einem Buch abgebildet: In der Dialogreihe „Shalom Aleikum“ des Zentralrats der Juden in Deutschland berichten jüdische und muslimische Protagonisten über ihre Lebenswelten, ihre Zugehörigkeit und ihre Dialogerfahrungen. Das Ziel: Antisemitismus soll gar nicht erst entstehen. Denn wer miteinander spricht, geht ohne Vorbehalte aufeinander zu.

 

Von Alltag und Kleidung

 

Für Karolina Becker gehört Religion ganz selbstverständlich zum Alltag. So ist sie aufgewachsen. Anders als ihre Eltern und Großeltern, die aus der Ukraine eingewandert sind und denen es lange verboten war, ihren jüdischen Glauben zu praktizieren.

Die Schülerin geht morgens nicht ohne Gebet aus dem Haus, sie trägt oft eine Kette mit dem Davidstern – und wer sie länger kennt, wird feststellen, dass sie keine Hosen, sondern nur Röcke und langärmlige T-Shirts im Schrank hat. Sie richtet sich nach den Kleidervorschriften des orthodoxen Judentums, wonach Frauen die Knie bedecken, die Ellbogen und das Schlüsselbein. „Das habe ich für mich so entschieden, Kleidung spiegelt ja die innere Haltung wider“, sagt sie und fügt hinzu: „Es steht mir frei, meinen eigenen Weg zu finden.“

 

Koschere Speisen

 

Ihre Freunde wissen auch, dass Karolina Becker sich nicht einfach so mit ihnen an den Tisch setzen und essen kann. Die Kaschrut, ein Abschnitt der Tora, legt die Speisegesetze für gläubige Juden fest. Sie unterscheidet zwischen Lebensmitteln, die koscher und somit zum Verzehr erlaubt sind, und solchen, die als treife, als unerlaubt gelten.

Kein Problem für Karolina Becker. „Wenn ich zu Geburtstagen eingeladen bin oder irgendwo übernachte, habe ich eben ein bisschen mehr Gepäck dabei und bringe mein Essen mit.“ Notfalls geht sie in den nächstgelegenen Supermarkt. „Da kriegt man auch viele koschere Süßigkeiten“, sagt sie und lacht. „Ausgeschlossen fühle ich mich nie, meine Freunde sind sehr offen.“

 

Klausuren und Feiertage

 

Während einer Klassenfahrt nach Berlin zum Beispiel schlug sie den anderen vor: „Hier gibt es auch koschere Cafés. Wenn es für euch okay ist, lasst uns einfach dorthin fahren, dann kann ich auch was essen.“ Gesagt, getan. Schwieriger ist es manchmal, wenn Klausuren an jüdischen Feiertagen geschrieben werden. Aber dann meldet sie sich früh genug bei den Lehrern und darf nachschreiben.

Jüdinnen und Juden sind Arbeitskollegen, Mitschüler und Nachbarn. „Wer niemanden persönlich kennt, ist überrascht, dass wir auch ganz normale Dinge tun: in die Schule gehen, studieren, arbeiten oder Sport treiben“, sagt Karolina Becker. „Viele Menschen kennen das Judentum nur aus Religionsbüchern.“

 

Begegnungen mit Schulklassen und Gruppen

 

Um das zu ändern, nimmt die Osnabrückerin an Begegnungsprojekten teil, die Einblicke geben in die Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland. Bei „Meet a Jew“ beispielsweise lässt sich Karolina Becker gern in die Karten schauen.

Jugendgruppen laden sie ein und erfahren, wie sie das Judentum in ihren Alltag integriert, welche Musik sie gern hört oder dass ihre Leistungsfächer Biologie und Chemie sind. „Wenn ich in Klassen gehe, haben die Schüler ein Bild von einer jungen jüdischen Person, die genauso aussieht wie sie selbst, und nicht mehr nur vom Nationalsozialismus“, schreibt Karolina Becker auf der Internetseite „Meet a Jew“. An die Verbrechen des Holocaust müsse weiterhin erinnert werden, findet sie, aber es gebe auch wieder neues jüdisches Leben in Deutschland. Ein Judentum, das sich nicht versteckt, ein Judentum außerhalb des Geschichtsbuches.  

 

Noch keine Angriffe erlebt

 

Normalerweise besucht Karolina Becker die Schulklassen persönlich, nimmt Fotos von der Tora, der heiligen Schrift, mit, eine Kippa (Kopfbedeckung) oder koschere Süßigkeiten. In Corona-Zeiten findet „Meet a Jew“ online statt. Egal wie: „Jedes Mal bin ich nervös, aber bisher waren alle Begegnungen super.“

Antisemitische Angriffe hat die 19-Jährige bisher nicht erlebt. Dennoch trägt sie nicht überall öffentlich ihre Davidsternkette. „Gefährlichen Situationen gehe ich aus dem Weg, ich möchte auch nicht, dass sich meine Eltern Sorgen machen.“ Aber wenn auf dem Schulhof zum Beispiel Judenwitze erzählt werden, macht sie den Mund auf.

 

Zweites Zuhause

 

Was mag sie an ihrer Religion? Sie überlegt kurz. „Das Judentum versucht, aus dir keinen perfekten, aber einen guten Menschen zu machen: Du sollst anderen Menschen mit Respekt begegnen und dein Potenzial nutzen.“

Die jüdische Gemeinde ist ihr zweites Zuhause, „ich kenne die Menschen hier seit meiner Kindheit“. Sie mag die Gemeinschaft, die Art zu feiern, die ehrenamtliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. All das vermisst sie in Corona-Zeiten. Unklar ist auch noch, wie es nach dem Abitur weitergeht. Karolina Becker will Medizin studieren und eine Zeitlang ins Ausland, am liebsten nach Israel. „Aber das steht noch alles in den Sternen.“

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