Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ / Interview mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden

Schuster: Immer noch Vorurteile gegen Juden

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Seit 1700 Jahren ist jüdisches Leben in Deutschland belegt. Für Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, ein bundesweit wichtiges Jubiläum. Im Interview sagt er, wie bunt jüdisches Leben ist – und was ihm Sorge bereitet.

Herr Schuster, was wollen Sie mit dem Festjahr erreichen?

Der Verein „321 – 2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, zu dessen Gründungsmitgliedern ich gehöre, will mit dem Festjahr darauf hinweisen, dass es jüdisches Leben in Deutschland nicht erst seit 20 Jahren gibt und auch nicht nur etwas mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 zu tun hat. Häufig setzen die Menschen Judentum in Deutschland leider mit der Schoah gleich. Dabei übersehen sie vollkommen, dass es zuvor über viele Jahrhunderte jüdisches Leben in Deutschland gab und es eben auch heute wieder ein aktives jüdisches Leben gibt. Tatsächlich leben Juden seit 1700 Jahren in deutschen Landen. Wenn das in den Köpfen der Menschen ankommt, ist schon viel erreicht.

Was sind Höhepunkte des Festjahres?

Es gibt Veranstaltungen quer durchs Bundesgebiet. Am 21. Februar wird das Festjahr mit einem Festakt eröffnet, dabei ist dann auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als Schirmherr. Höhepunkte werden sicherlich auch im September das weltgrößte Laubhüttenfest, genannt „Sukkoth XXL“ sowie das große Kulturfestival „Mentsh“.

Was ist noch geplant?

Josef Schuster
Josef Schuster ist seit 2014 Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. | Foto: pd

Schon vorher, am Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, gibt es einen großen symbolischen Akt: Dann werden im Reichstagsgebäude die letzten Buchstaben auf die „Sulzbacher Thorarolle“ geschrieben. Sie ist eine der ältesten Thorarollen Deutschlands und gerade in Israel aufwändig restauriert worden, es fehlen eben nur die symbolischen letzten Buchstaben. An der Zeremonie beteiligen sich alle Verfassungsorgane – von Bundespräsident über Bundeskanzlerin bis hin zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Sie sehen: Gerade jetzt in den ersten Monaten ist das Festjahr auch durch die Pandemie geprägt. Ich hoffe, es gelingt im weiteren Verlauf, auch mehr Präsenz-Veranstaltungen mit Menschen vor Ort zu haben.

Wie haben Juden in den vergangenen 1700 Jahren Deutschland geprägt?

Es gibt eine ganze Reihe von Juden, die im deutschsprachigen Bereich Großes erbracht haben, zum Beispiel in der Wissenschaft. Lassen sie mich nur einen Namen nennen: Sigmund Freud. Seine Theorie der Psychoanalyse ist weiterhin von großer Bedeutung. Leopold Sonnemann, der Gründer der „Frankfurter Zeitung“, aus der später die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hervorging, war Jude. Und auch in der Musik und in den bildenden Künsten haben Juden über Jahrhunderte hinweg die Szene geprägt, denken Sie nur an die Namen Kurt Weill und Max Liebermann.

Wie sieht das jüdische Leben in Deutschland heute aus?

Aktuell ist es wie alle anderen Lebensbereiche auch von Corona geprägt. Davon abgesehen gibt es in 105 jüdischen Gemeinden quer durch Deutschland, von Ost nach West, von Nord bis Süd ein aktives Gemeindeleben. In unseren Gemeinden werden natürlich an jedem Schabbat sowie an den Feiertagen Gottesdienste gehalten. Daneben sind es auch Orte der Begegnung, vom Jugendzentrum bis zum Seniorentreff – ähnlich, wie es auch im kirchlichen Bereich ist. Für unsere Mitglieder sind die Gemeinden wichtige Orte für die Identitätsbildung. Sie fühlen sich dort zuhause. Jüdisches Alltagsleben spielt sich aber auch außerhalb der Gemeinden ab, vor allem in der Familie, die zum Schabbat oder zu den Feiertagen zusammenkommt. Hinzu kommen inzwischen viele Gruppen wie die Jüdische Studierenden­union oder Keshet, ein Zusammenschluss queerer Juden.

Wo können Juden und Nichtjuden einander begegnen, wo gibt es Anlaufstellen von interreligiösem Austausch?

Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten. In vielen Städten gibt es Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die den Dialog zwischen den Religionen fördern. Auch im jüdischen Sportverein Makkabi treffen Juden und Nichtjuden aufeinander und machen gemeinsam Sport. Aber auch die jüdischen Gemeinden haben Angebote für Nichtjuden, seien es Vorträge oder auch die Möglichkeit, Synagogen zu besichtigen. Gerade Letztes ist ein wichtiger Punkt: Dinge, die man einmal gesehen hat, sind nicht mehr vollkommen fremd. Das hilft ungemein, um Vorurteile abzubauen.

Sie hatten es vorhin schon angedeutet: Inwiefern prägt die Schoah noch heute das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland?

Es gibt heutzutage immer weniger Zeitzeugen, sowohl aufseiten der Überlebenden als auch auf der der Täter. Viele Überlebende haben es geschafft, die Hand zur Versöhnung zu reichen. Dafür gebührt ihnen bis heute Respekt. Die Schoah wird das Verhältnis immer prägen. Leider gibt es unter Nichtjuden immer noch eine ganze Reihe von Vorurteilen. Einige davon sind im Nationalsozialismus entstanden, andere gehen noch weiter zurück. Unser Ziel muss sein, dass diese Vorurteile endgültig verschwinden. Auch beide großen Kirchen haben übrigens diese Vorurteile verbreitet. Das ist eine historische Verantwortung, der sie sich inzwischen aber stellen.

Leiden auch jüdische Gemeinden ähnlich wie christliche an Überalterung? Gibt es ähnlich viele säkularisierte Juden wie Christen?

Ja, ich denke schon, dass es einen großen Anteil säkularisierter Juden gibt, wobei die Situation in der Diaspora für ein lebendiges Gemeindeleben die „güns­tigere“ ist. Wenn Sie christliche Gemeinden im Heiligen Land beobachten, ist das ähnlich. Auch sie haben einen stärkeren Zulauf, mehr Beteiligung der Mitglieder. Ähnlich sehe ich das für jüdische Gemeinden in der Diaspora, in diesem konkreten Fall in Deutschland. Was die Demografie angeht, haben wir tatsächlich eine Überalterung. Das ist nicht optimal, trotz allem ist aber das Gemeindeleben sicherlich auf Jahrzehnte hinweg gesichert.

Schuster: Christlich-jüdisches Verhältnis so gut, wie nie zuvor

Am Montagabend hat Josef Schuster die Aufarbeitung von historischem Antisemitismus und Holocaust durch die Führung der großen Kirchen gelobt. Das geht aus seinem Redemanuskript für den Online-Jahresempfang 2021 der Evangelischen Akademie Tutzing hervor.

Die früher verbreitete Judenfeindlichkeit der Kirchen sei im 19. Jahrhundert der Nährboden des rassistischen Antisemitismus gewesen, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Beide Kirchen hätten dies in ihrem Handeln verinnerlicht. „Es ist diese Haltung der Kirche, die dazu beiträgt, dass heute das christlich-jüdische Verhältnis so gut ist, wie es wohl noch nie in der Geschichte war.“ Schuster hielt den Festvortrag „Bedroht, beschützt, beheimatet: Jüdisches Leben heute“.

Schuster ergänzte: „Die historische Aufarbeitung, die an der Spitze der beiden christlichen Kirchen geleistet wurde, vermisse ich allerdings in der Breite unserer Gesellschaft. Sowohl habe ich manchmal Zweifel, wie viel bei der Basis, in den einzelnen Kirchengemeinden ankommt, als auch sehe ich große Defizite insgesamt in der Gesellschaft.“

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