Theologische Fakultät Münster erforscht Tätigkeit von August Rohling

Wie konnte ein Antisemit Theologie-Professor werden, Herr Köster?

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Der aus Neuenkirchen bei Rheine stammende Priester August Rohling schrieb 1870 sein Buch „Der Talmudjude“, eine antijüdische Hetzschrift, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein verbreitet wurde und nicht zuletzt bei den Nationalsozialisten Anklang fand. Trotzdem wurde Rohling im Jahr des Erscheinens seines Buchs Professor für Altes Tesament in Münster. Norbert Köster, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster erklärt, warum und wie sich die Katholische Fakultät dieser Vergangenheit stellen will.

Herr Köster, warum beschäftigt sich die Katholische Fakultät in Münster mit der antisemitischen Hetzschrift, die ein Priester und Alttestamentler vor 150 Jahren geschrieben hat?

Wir beschäftigen uns damit, weil die Fakultät August Rohling 1871, also genau in dem Jahr, in dem er seine Schrift veröffentlicht hat, ehrenhalber promoviert und zum Außerordentlichen Professor ernannt hat. Dass das angesichts einer derartigen antisemitischen, antijüdischen Hetzschrift möglich war, muss uns in diesem Jahr 2021, in dem wir über 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland feiern, zum Nachdenken bringen. Man kann nicht sagen, dass solche Schriften damals zuhauf entstanden; das Werk von Rohling ist bei katholischen Theologen eher ein Einzelfall. Er stammt aus Neuenkirchen, also aus der Mitte des Münsterlandes, und auch dort waren Juden in der Zeit des Kaiserreichs durchaus integriert. Selbstverständlich gehörten sie auch in Neuenkirchen zum Alltag, und natürlich kaufte man auch im benachbarten, größeren Rheine in Geschäften von jüdischen Inhabern ein. Darum beschäftigt es uns als Fakultät, wie es zu diesem Werk kommen konnte und wie das Buch so durchgehen konnte.

Welche Erklärung haben Sie dafür? Was wissen Sie über August Rohling?

In der Tat ist über seine Biographie vieles noch unklar. August Rohling war ja nur Außerordentlicher Professor, war also nicht an der Universität angestellt. Er ging dann nach Prag und verschwand schlichtweg. Die Gründe kennen wir noch nicht. Später war er in den USA, seinen Ruhestand verbrachte er in Salzburg. Daran forschen Professor Hubert Wolf und sein Mitarbeiter Matthias Daufratshofer. Ich würde gern regionalgeschichtlich arbeiten: Welche Erkenntnisse gibt es in seiner Heimat Neuenkirchen? Gab es dort und in der Region weitere Menschen mit ähnlichem Gedankengut?

Was macht diese Schrift zur Hetzschrift?

Das Schlimme an diesem Buch ist, dass Rohling uralte Stereotype aufgreift und bedient. Es ist in der ersten Auflage gar nicht einmal so dick, hat nur 78 Seiten. Sie ist allerdings im Lauf der Zeit gewachsen, bis 1878 hat es sieben Auflagen gegeben. Die Schrift besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil soll erklären, warum Juden so geworden sind, wie sie seiner Meinung nach sind. Dabei bezieht er sich natürlich nicht auf das Alte Testament, weil ja auch Christen davon geprägt sind. Er sagt: Die Wurzel allen Übels liegt im Talmud.

Das müssen Sie uns näher erklären

Das Judentum hat sich bis zum Jahr 70 n. Chr. ganz stark auf den Tempel in Jerusalem konzentriert. Die Priester dort gaben alle Traditionen und Riten weiter. Als dann der Tempel zerstört wurde, mussten sich die Juden organisatorisch, theologisch, spirituell völlig neu finden. Es entstehen neue Zentren – unter anderem in Babylon. Die dortigen Rabbiner schließlich leiten aus dem Alten Testament eine Lebensordnung ab, die in allen Lebensbereichen alles definiert – von der Landwirtschaft bis zum Umgang mit Frauen, von Reinheitsfragen bis zum koscheren Kochen. Das alles ist in der „Mischna“ festgelegt. Diese Mischna wiederum wurde immer weiterentwickelt, gedeutet, kommentiert – und all dies zusammengenommen ist der Talmud. Aus diesem Talmud nun zitiert Rohling immer wieder – allerdings völlig wahllos und völlig aus dem Zusammenhang genommen.

Worum geht es dann im zweiten Teil des Rohling-Buchs?

Da geht es um die Sittenlehre des Talmuds. Rohling behauptet, die Juden müssten nur untereinander gut sein – nicht aber gegenüber den „Goim“, also den Nicht-Juden. Da lege der Talmud fest, dass Juden sie belügen dürfen, sie hintergehen, sogar umbringen. Das belegt Rohling allerdings, wie gesagt, mit völlig aus dem Zusammenhang und dem historischen Kontext gerissenen Zitaten. Man muss beachten, dass der Talmud in einer Zeit entstanden ist, in der die Juden extrem verfolgt wurden. Das kleine jüdische Volk wurde zerrieben zwischen dem west- und oströmischen Reich und den wachsenden Christengemeinden. Die Juden fühlten sich enorm bedrängt – und in eben dieser Situation schärfen die Rabbiner den Zusammenhalt durch Abgrenzung. Zudem versteht Rohling die spirituellen Deutungen im Talmud nicht im Ansatz.

Hätten Sie ein Beispiel?

Er zitiert etwa einen Rabbi, der im Talmud erklärt, er wolle trotz des Versöhnungstages viele Jungfrauen schänden, da ja „die Sünde draußen vor der Tür des Herzens, das Innere der Seele von den Bosheiten des Menschenunberührt bleibe“ Das ist eine ganz überspitzte Formulierung – übrigens ganz ähnlich wie auch Luther bei seinen 95 Thesen von der Schändung der Jungfrau Maria spricht. Dabei geht es dem Rabbi um eine theologische Aussage zum Versöhnungstag - nämlich zu der Frage, wie stark die Sünde in das Herz hineinkommt. Dazu sagt er salopp: Du kannst die schlimmsten Sünden begehen, das Entscheidende ist das Innere deiner Seele. Dafür nimmt er als Beispiel die Schändung der Jungfrauen. Rohling greift das auf und unterstellt ihm: Juden haben keinerlei Hemmungen, Frauen zu vergewaltigen, , sofern die Frauen keine Jüdinnen sind., So arbeitet er seitenweise.

Welche anderen Belege für seine Behauptungen nennt Rohling?

August Rohling
August Rohling (1839-1931) stammt aus Neuenkirchen (Kreis Steinfurt).

Er beschäftigt sich auch mit historischen Aspekten – und kocht sämtliche Vorurteile über Juden zusammen. Das geht vom Vorwurf der Brunnenvergiftung im Mittelalter bis zu Zeitungsartikeln seiner Zeit, die angeblich zeigen, dass die meisten Straftaten von Juden begangen würden. Er begründet all dies damit, dass der Talmud derlei Dinge angeblich erlaubt. Darum seien die Juden erstens kriminell und fühlen sich zweitens als besonderes Volk, dem alles erlaubt sei und das den Anspruch auf die Weltherrschaft erhebe. Gerade diesen letzten Aspekt breitet er weit aus. Es verwundert daher nicht, dass sein Buch nachweislich intensiv von den Nazis rezipiert wurde.

Verschwörungstheorien, auch über eine geheime oder jüdische Weltherrschaft, tauchen ja auch wieder etwa in der Querdenker-Szene auf. Wie erklären Sie es sich, dass sich solche Vorstellungen halten können und jetzt wieder hochkommen?

Die Frage, ob es dunkle Mächte gibt, die ich zwar nicht wahrnehme, die aber gegen mich arbeiten – diese Frage kommt wohl aus einer Grundangst des Menschen. Erst recht, wenn dann noch Geld und Macht eine Rolle spielen. Und natürlich: Juden waren vielfach Bankiers. Das hat aber klare historische Gründe: Christen war es schlichtweg verboten, Zinsen zu verlangen, Juden hingegen durften es. So waren es im Mittelalter häufig Juden, die Geld verliehen. Wenn dann dazu kommt – und davon berichtet Rohling –, dass Christen hoch verschuldet waren, auch auf dem Land und angeblich zum Nutzen der Juden, dann ist sein Süppchen schnell gekocht.

Wie kann es sein, dass ein Alttestamentler wie Rohling Antisemit ist?

Man kann das nur aus der Zeit heraus sehen. Das Alte Testament war damals zwar als Lebensordnung – denken Sie an die Zehn Gebote – fester Bestandteil des christlichen Lebens, aber es gibt eben auch eine lange theologische Tradition sowohl in der Reformation als auch auf der katholischen Seite, die sehr stark betonte: Mit Jesus Christus ist etwas Neues gekommen. Das ging auch ineins mit einer Abwertung des Alten Testaments und des Judentums. Wobei Rohling ja bewusst nicht gegen das Alte Testament schießt, sondern gegen den Talmud. Das Alte Testament ist für ihn eine Urkunde der Geschichte Gottes mit diesem Volk, aber das Volk wurde untreu – und aus derselben Geschichte kommt Jesus, der alles neu gemacht hat.

August Rohling ist 1931 gestorben, die Rezeption seines Buches reicht bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Wie erklären Sie sich, dass sich die Katholische Fakultät in Münster erst 90 Jahre nach seinem Tod kritisch mit ihm und seinem berühmten Werk auseinandersetzt?

Diese Auseinandersetzung hat es in der Tat bis heute nicht gegeben. Es gibt eine umfangreiche Geschichte der Fakultät aus den Sechzigerjahren, in der durchaus von Rohling und seinem Buch die Rede ist. Aber man ist nie damit an die Öffentlichkeit gegangen. Jetzt haben die Alttestamentler, allen voran Ludger Hiepel, eine Beschäftigung damit auf den Weg gebracht. Wir sind dankbar, dass das Jubiläum „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ den Anstoß dazu gegeben hat, uns diesem Teil der Geschichte unserer Fakultät zu stellen.

Wie wird sich die Fakultät nun mit Rohling und seinem Buch befassen?

Im November wird es eine Tagung im Franz-Hitze-Haus geben, bei der wir Rohlings Schrift vorstellen, den Talmud erklären und die Forschungsprojekte präsentieren. Dann soll es eine weitere vertiefende Veranstaltung geben. Wir werden darüber hinaus untersuchen, wie verbreitet Antisemitismus unter Katholikinnen und Katholiken im Münsterland zur damaligen Zeit war.