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Er wollte es genauer wissen. Als Heinz Stratmann 2014 als Lehrer am Mariengymnasium in Warendorf pensioniert wurde, hatte er sich etwas vorgenommen: Aus den vielen Berichten und Dokumenten zur Wallfahrtsgeschichte seiner Heimat, des weit über Westfalen hinaus bekannten Marienwallfahrtsorts Telgte, hatten sich für ihn im Laufe der Jahre Fragen ergeben, die er beantworten wollte. Etwa die nach den Ursprüngen der Marienverehrung in Telgte, nach der Zeit davor und nach den theologischen Hintergründen. Denn er war überzeugt: Nicht Maria war ursprünglich das Ziel zahlreicher Pilger.
Darum sagt der promovierte Theologe: „Wie kann belegt werden, dass Telgte vor der Marienverehrung ein Wallfahrtsort zum Heiligen Kreuz war, und warum geriet diese Verehrung in Vergessenheit?“ Denn dass die Menschen in früherer Zeit in die Stadt an der Ems zu einer Kreuzreliquie pilgerten, war lange Zeit weitgehend unbekannt. „Und wenn der damalige Sakristan Karl-Heinz Engemann 1972 auf dem Dachboden des Heimathauses nicht eine Spanschachtel mit einer Kreuzreliquie entdeckt hätte, wäre uns das vielleicht bis heute nicht präsent.“
Daten und Ereignissen müssen überdacht werden
Die Kreuzreliquie in der Vitrine in einer Säule der Propsteikirche in Telgte. | Foto: Michael Bönte
Also setzt sich der heute 73-jährige Stratmann mehr als 30 Jahre später hin, um all die Fakten noch einmal auf seinen Schreibtisch zu legen. Er stöberte in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, nahm Kontakt zu anderen Forschern auf und recherchiert historische Dokumente. Mit den Antworten, die er daraus formulieren konnte, muss die Geschichte Telgtes zwar nicht neu geschrieben werden, sagt er. „Aber einige Ereignisse und Daten müssen noch einmal überdacht werden.“
Für die Kreuzverehrung in Telgte hat er eindeutige Fakten zusammengetragen. „Im Kopf des silbernen Korpus des Triumphkreuzes, der heute über dem Altar in der Propsteikirche hängt, gibt es ein Depositorium, in das eine Kreuzreliquie eingelassen war.“ Das Kreuz stammt aus dem frühen 13. Jahrhundert, also aus einer Zeit, bevor der Beginn der Marienverehrung in Telgte datiert wird. Für Stratmann ergibt sich daraus die Frage, ob der Ablassbrief aus dem Jahr 1300, mit dem der Beginn der Marienwallfahrt in Verbindung gebracht wird, nicht eher der Kreuzverehrung galt. „Kam die Marienverehrung erst viel später?“
Ein Katastrophen-Jahrhundert brachte den Wechsel
Deutlich erkennbar: Unter einem Deckel auf dem Haupt des Corpus am Altarkreuz in der Propsteikirche war die Kreuzreliquie eingesetzt. | Foto: Michael Bönte
Interessant ist für den Forscher dabei der Übergang von der einen Form der Wallfahrt zur anderen. „Wie, wann und warum trat das Kreuz in den Hintergrund und die Pietà in den Vordergrund?“ Für seine Antwort hat er sich die damalige Zeit genauer angeschaut. „Das 14. Jahrhundert war ein Katastrophen-Jahrhundert“, sagt Stratmann. Historische Karten zeigen die Auswirkungen einer Hochwasserkatastrophe, die mehr als ein Drittel der bebauten Fläche Telgtes wegriss. Auch ein Großteil des Ackerlandes wurde vernichtet. „Missernten, Hungersnöte und Krankheiten waren die Folge.“ Hinzu kam die Pest, die auch in der Stadt an der Ems wütete.
„Das hatte Auswirkungen auf die Frömmigkeit der Menschen“, sagt Stratmann. „Sie suchten die Fürsprache von jemandem, der ihr immenses Leid nachvollziehen konnte.“ Der Fokus auf den über den Tod triumphierenden Jesus am Kreuz, so wie er in jener Zeit dargestellt wurde, schwenkte auf die Darstellung der leidenden Gottesmutter mit ihrem toten Sohn im Schoß. „Die Pietà war das Bild einer Frau, die den alltäglichen Schmerz der Menschen nachvollziehen, die mitleiden konnte.“
Der Wechsel zur Marienverehrung ist einzigartig
Heute wallfahren die Menschen ausschließlich zu Pietà in der Marienkapelle. | Foto: Michael Bönte
Stratmann hat viele weitere Informationen und Dokumente zusammengetragen, die seine Thesen stützen: Urkunden, die die Existenz einer Heilig-Kreuz-Bruderschaft in Telgte belegen, geografische Karten aus dem 17. Jahrhundert oder Erkenntnisse zur Entwicklung einer Leidensmystik in jener Zeit. „Sicher ist, dass es eine Kreuzverehrung in Telgte gab – wenn auch nicht die bekannteste im Münsterland.“ Der Wandel zum Marienwallfahrtsort sei aber in dieser Region einzigartig.
Bekannt ist diese Entwicklung weiterhin kaum. „Wer nach Telgte pilgert, geht zur Pietà in die Kapelle.“ Das kleine Reliquiar mit den feinen Holzfasern in einem Bergkristall an einer Säule des Altarraums beachten hingegen nur wenige. Diese Fasern aus dem Kreuz Jesu mit der vatikanischen Echtheitsurkunde erzählen für Stratmann aber neue Details aus der Wallfahrtsortgeschichte. Er wird sie weiter hinterfragen – das ist sicher.