Gastkommentar von Johannes Schnocks über Judenfeindlichkeit auch im Christentum

Weil wir Christen sind, braucht es unseren Kampf gegen Antisemitismus

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Vor 85 Jahren brannten in Deutschland Synagogen, von Nazis in Brand gesteckt. Der erneut wachsende Antisemitismus gehörte aber auch zu Denkstrukturen des Christentums, zeigt Johannes Schnocks, Professor für Altes Testament in Münster, in seinem Gastkommentar am Gedenktag der Reichspogromnacht von 1938.

In diesen Wochen werden wir nicht nur mit schrecklichen Nachrichten aus Israel und Gaza konfrontiert, sondern auch mit einer Zunahme antisemitischer Straftaten hier in Deutschland und weltweit. Haben denn die Menschen nach all dem Leid des Holocaust das „Nie wieder“ nicht verstanden? Warum müssen wir auch heute noch gegen alle Arten der Judenfeindschaft aktiv ankämpfen?

Der Historiker David Nirenberg hat gezeigt, dass der Antijudaismus nicht einfach wie andere Formen von Feindschaft auf eine konkrete Situation der Konfrontation reagiert, sondern tief in den Denkstrukturen der christlichen und islamischen Kulturen verankert ist. Seit der Antike bis hin zu antisemitischen Rassenideologien im 19. und 20. Jahrhundert ging es häufig gar nicht um konkrete Menschen, sondern um Denkweisen. Das Judentum wurde zur Folie, um das zu beschreiben, was man selbst nicht war oder keinesfalls sein durfte.

Der Jude Jesus und die Christen

Der Autor
Johannes Schnocks ist Professor für Zeit- und Religionsgeschichte des Alten Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Er gehört zum geschäftsführenden Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Münster.

Ganz wesentliche Denkmuster sind dabei in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends entstanden, als Judentum und Christentum zunächst wenig unterschieden waren – Jesus und seine Anhänger waren Juden! – und sich in Austausch mit- wie Abgrenzung voneinander zu zwei verschiedenen Religionen mit derselben Basis in der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament entwickelten. 

Um die eigenen Anhänger zu stärken und ihnen Identität und Orientierung zu geben, haben die christlichen Theologen in dieser Zeit stark polarisiert: Gott habe die Juden, die sich nicht zu Jesus bekennen, verworfen, alle Heilszusagen des Alten Testaments seien allein auf die Christen übergegangen, die Prophetenworte seien in Christus erfüllt, sodass sie auch nur von Christen richtig verstanden werden können.

Judentum und christliche Identität

Erst nach dem Holocaust hat sich die katholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil von solchen Aussagen distanziert, jeden Judenhass verurteilt und das Gespräch mit dem Judentum gefördert. Die lebendige Beziehung zum Judentum gehört zur christlichen Identität!

Aber viele Denkweisen der Alten Kirche und das, was sich an weniger offensichtlichem Antisemitismus daraus entwickelt hat, sind deshalb ja nicht verschwunden. Sie begegnen in Kirchenliedern, in für Christinnen und Christen „selbstverständlichen“ Leseweisen mancher Texte und leben im schlimmsten Fall weiter in Verschwörungstheorien und direkter Gewalt gegen jüdische Menschen und Institutionen. Wir müssen hier wachsam bleiben und den Antisemitismus in jeder Form mutig bekämpfen, weil wir Christen sind. „Nie wieder“ ist immer auch heute.

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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