Interview mit dem Verschwörungs-Experten und Antisemitismus-Beauftragten von Baden-Württemberg

Warum ist der wachsende Antisemitismus gefährlich für alle, Michael Blume?

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Hass und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden - im Nahen Osten, aber auch auf Straßen und in Parlamenten in Deutschland. Woher kommt das? Wie gefährlich ist das? Sind Christen davor gefeit? Antworten des Antisemitismus-Experten und Buchautors Michael Blume im Interview mit Kirche-und-Leben.de.

Deutschland im Oktober 2023: Davidsterne an Wohnhäusern von Jüdinnen und Juden, unter wehenden Palästina-Fahnen unverhohlene Rufe nach einer Auslöschung Israels – wie gefährlich ist dieser explodierende Antisemitismus in unserem Land?

Die Nazis versuchten ihre antisemitischen Massenmorde noch zu verheimlichen. Doch die Hamas übernimmt im Bündnis mit Putin die Internet-Terrorstrategie des IS und streamt sogar Gewalt an Frauen und Kindern live. Durch diese Schockbilder sollen sowohl Anhänger wie Gegner der Hamas aufgehetzt werden. Im folgenden, längeren Krieg sollen auch Demokratien wie Deutschland, die Ukraine und die USA zerspalten werden. Und das wirkt leider insbesondere in muslimische und linke Milieus durchaus hinein! Wir sehen schon jetzt Gewalt, insbesondere in Berlin. Hier wäre jedes Zurückweichen fatal.

Woher kommt der Juden- und Israel-Hass in Teilen der arabischen Welt? Ist der Islam per se antisemitisch?

Das Judentum war die erste Religion der Alphabetisierung und Bildung. Der Noahsohn Sem gilt schon im Talmud als der erste Gründer einer Alphabetschule! Gegen diesen Semitismus formte sich schon früh und auch im Christentum ein Gemisch aus Neid, Angst und Verschwörungsmythen. Als sich ab 1485 ein osmanisches Verbot des Buchdrucks arabischer Lettern in der islamischen Welt durchsetzte, fiel die islamische Hochkultur gegenüber dem Westen immer weiter zurück. Heute glauben leider Mehrheiten vor allem in der arabischen Welt, ihr Niedergang sei das Ergebnis einer jüdisch-amerikanischen Weltverschwörung. Der Angriff der Hamas unterbrach auch eine Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien.

Die katholische Kirche betonte im Zweiten Vatikanischen Konzil die besondere Verbundenheit mit dem Judentum, Papst Johannes Paul II. sprach von den „älteren Schwestern und Brüdern“. Für wie antisemitismus-anfällig halten Sie das Christentum?

Michael Blume wuchs religionslos auf, wurde als junger Erwachsener evangelischer Christ. Seine Frau ist Muslimin. Er studierte Religions- und Politikwissenschaft in Tübingen, wo er auch zu Religion und Hirnforschung promovierte. Auf Vorschlag der jüdischen Landesgemeinden wurde er 2018 zum Antisemitismus-Beauftragten der Landesregierung von Baden-Württemberg ernannt.

Schon in der Antike wanderten antijüdische Verschwörungsmythen ins Christentum ein und sind noch nicht überall überwunden. Obwohl Jesus Jude war, können Sie auch heute noch eine christliche Theologie studieren, ohne ein einziges Seminar zum Judentum besucht zu haben! Und wir haben im Podcast von Lanz und Precht ja gehört, dass Halbwissen oft schlimmer wirkt als Nichtwissen! Umgekehrt können wir das Christentum sofort besser verstehen, wenn wir anerkennen, dass Jesus ein Rabbi und Paulus ein Pharisäer war.

Die Empörung war groß, als der slowenische Philosoph Slavoj Žižek bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse einerseits die Terrorangriffe der Hamas verurteilte, zugleich aber auf den „komplexen Hintergrund“ nicht zuletzt der Palästinafrage verwies. Kritiker werfen ihm Antisemitismus vor, der Leiter des Anne-Frank-Hauses in Frankfurt, Meron Mendel, verwahrt sich gegen jede Kontextualisierung der Terrorangriffe auf jüdische Zivilisten. Zu Recht?

Meron Mendel hatte Recht, dass die Kontextualisierung erst später erfolgen sollte. Ein von mörderischen Terroristen angegriffenes Volk erst einmal zu belehren, es sei an über 1.200 Ermordeten und den Geiselnahmen selber schuld, war kalt, peinlich und feindselig. Ich danke meinem hessischen Kollegen Uwe Becker dafür, dass er angesichts dieser Entgleisungen den Saal der Buchmesse verließ.

Die AfD-Bundestagsfraktion hat sich in einer Erklärung zu Israel bekannt. Zugleich warnen der Zentralrat der Juden und mehr als 40 weitere jüdische Organisationen vor der Partei, die sie antisemitisch nennen. Wie bewerten Sie die Äußerungen der Fraktion zu Israel?

Angesichts des langen Schweigens der beiden AfD-Bundesvorsitzenden Weidel und Chrupalla meinte einer meiner Söhne trocken: „Die streiten noch, ob sie Juden oder Muslime mehr hassen sollen.“ Tatsächlich erlebe ich bei der AfD streitende Flügel, auch zum Antisemitismus.

Der in der katholischen Deutschen Bischofskonferenz für den christlich-jüdischen Dialog zuständige Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr hat die Gewalt der Hamas und Hassaufrufe gegen Jüdinnen und Juden hierzulande in einem Interview verurteilt. Auch die niedersächsischen Bischöfe sowie die Weihbischöfe in unserem Bistum Münster haben die Gewalt beklagt. Sehen Sie die Gefahr wachsenden Antisemitismus kirchlich genug erkannt?

Bei den Kirchen und in der Theologie in den Demokratien sehe ich große Fortschritte durch den jüdisch-christlichen Dialog. Dass Jesus hebräisch Jehoschua hieß, Jude war und sogar als erster Mensch in der Literatur Rabbi genannt wurde, begreifen täglich mehr Christinnen und Christen. Wenn dann noch tiefere Kenntnisse über das Judentum hinzukommen, verwurzelt und vertieft sich auch das christliche Leben. Da passiert bereits viel Gutes und es darf gerne noch mehr werden!

Ihr neues Buch behauptet im Titel, Antisemitismus könne für uns alle gefährlich werden. Wie meinen Sie das?

Rabbi Jonathan Sacks, seligen Andenkens, hat einmal treffend über den Antisemitismus gesagt: „Dieser Hass beginnt immer bei Juden, aber endet nie bei ihnen.“ So haben die Nazis auch tödliche Verschwörungsmythen gegen Sinti und Roma vollstreckt. Der sogenannte Islamische Staat beging einen Genozid auch gegen die Jesiden. Die Hamas würde gern auch die israelischen Drusen vernichten. Das antisemitische Regime des Iran ermordet Frauen. Und Antisemiten schaden sich sogar selbst, weil sie bald auch Ärztinnen misstrauen oder Reichsbürger werden. Wir sehen ja auch, wie die Integration scheitert, wenn Zuwanderer am Antisemitismus ihrer Herkunftsländer festhalten.

Was also tun?

Wer bis hierher gelesen hat, ist schon besser vor antijüdischem Verschwörungsglauben geschützt. Dann gilt es die riesige Rolle der Medien besser zu verstehen, vom Alphabet über den Buchdruck bis zu Twitter, jetzt X. Wem das gelungen ist, der ist besser gegen Falschinformationen und Terrorpropaganda geschützt. Und wer sich dann noch für die deutsch-israelischen Beziehungen und den interreligiösen Dialog engagiert und dabei selbst immer mehr lernt, drängt den Antisemitismus zurück. Dieser Hass ist hartnäckig, aber nicht unbesiegbar.

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