Der Israel-Kenner, Ethik-Experte und Jesuit im "Kirche-und-Leben.de"-Interview

Gewalt sät Gewalt im Nahen Osten - gibt es einen Ausweg, Pater Brüntrup?

Anzeige

Raketen zerstören Leben in Israel und im Gazastreifen. Wie lange ist Gewalt legitim? Wie weit darf Verteidigung gehen? Was ist los mit unserer Welt? Godehard Brüntrup ist Jesuit und Philosoph. Er kennt den Nahen Osten, hat Freunde in Israel, spricht Hebräisch, lebt zurzeit in den USA. Dort hat er unsere Fragen beantwortet.

Pater Brüntrup, Israel reagiert auf die brutalen Terrorangriffe der Hamas mit massiver Bombardierung des Gazastreifens, um die Hamas auszuschalten. Wo endet Verteidigung, wo beginnt Rache?

Der Papst hat das in der christlichen Tradition fest verankerte Recht auf Selbstverteidigung auch in diesem Fall klar bestätigt. Der Verzicht auf eine robuste Antwort würde außerdem in der Welt des Nahen Ostens als Schwäche ausgelegt. Und das würde eine weitere Eskalation der Angriffe auf Israel provozieren. Gegen den Versuch, die bedrohliche Terrororganisation Hamas auszuschalten, ist also ethisch nichts einzuwenden. Nicht erlaubt wäre hingegen, nun seinerseits - wie vorher die Hamas - Jagd auf Zivilisten zu machen, also mit gleicher Münze heimzuzahlen. Moralisch ebenfalls nicht erlaubt ist es, militärische Ziele ohne Rücksicht auf Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung anzugreifen. 

Der einzig akzeptable Weg ist der Angriff auf militärische Ziele mit einer glaubhaften und wirksamen Bemühung, Schaden von Zivilisten abzuhalten. Ich spreche in diesen Tagen mit Menschen in Israel, manchmal übers Handy im Luftschutzkeller. Ich nehme die Stimmung wahr. Und von daher habe ich Zweifel daran, ob man in der gegenwärtigen Situation auf diese moralischen Unterscheidungen genügend Rücksicht nehmen wird. Ich befürchte, das Land sieht sich in einem Kampf ums Überleben und wird entsprechend erbarmungslos agieren.

Hamas-Terroristen haben ein Kibbuz und ein Musikfestival angegriffen, die Rede ist von mehr als 200 jungen Leuten, die sie bestialisch ermordet und weitere entführt haben. Was bringt Menschen dazu, Unschuldige so skrupellos zu töten?

Zur Person
Godehard Brüntrup ist Jesuit und Professor für Metaphysik und Philosophie des Geistes an der Hochschule für Philosophie in München und der St. Louis University in den USA.

Wir haben es hier mit aufgestautem Hass, ideologischer Indoktrination und religiösem Fanatismus zu tun. Es gibt bei den Palästinensern einen gerechtfertigten Anlass für moralische Empörung. Aus einer Vielzahl von Gründen, zu denen die Politik Israels ebenso gehört wie auch die Unfähigkeit der palästinensischen Anführer zu Kompromiss und Frieden, haben viele Menschen in Palästina gravierende und schmerzhafte Ungerechtigkeiten erfahren. Das macht wütend und gewaltbereit. Für eine Terrororganisation wie die Hamas, die sich nicht nur die Vernichtung des Staates Israel, sondern die Ausrottung des jüdischen Volkes auf die Fahnen geschrieben hat, ist das ein fruchtbarer Boden. 

Was religiöse Menschen erschüttern sollte: Man greift zu grenzenloser und völlig inhumaner Gewalt ausgerechnet im Namen Gottes. Während man Wehrlose abschlachtet, ruft man: „Gott ist der Größte!“ Wie ist das möglich? Eine Gottesvorstellung, eine Theologie, eine gelebte religiöse Praxis, die eine solche Verunstaltung des Antlitz’ Gottes ermöglicht, ist pervertiert. Alle Religionen müssen sich auf ihr Gewaltpotenzial hin kritisch befragen.

Die verständlichen Gegenschläge Israels treffen im extrem dicht besiedelten und kaum einen Ausweg zulassenden Gazastreifen vermutlich weit mehr als nur Hamas-Anhänger, so neben Einwohnern womöglich auch die Geiseln aus Israel – sei es mit Raketenbeschuss, sei es durch das Lebensmittel-, Wasser- und Energie-Embargo. Ein ethisches Dilemma … Was denken Sie?

Es gibt hier keinen Ausweg, den man gehen kann, ohne Schuld auf sich zu laden. Unterlassen ist eben nicht harmlos. Politiker, die gegenüber skrupellosen und hasserfüllten Terrororganisationen dem Rat Jesu folgen und noch die andere Wange hinhalten, liefern dadurch die Menschen ans Messer, die sie eigentlich schützen sollten. Der Amtseid verpflichtet sie, Schaden von ihrem Volk abzuwenden. Und das beinhaltet in diesem Fall wohl ein entschiedenes militärisches Vorgehen gegen die Terroristen. Ich würde mir wünschen, dass dabei den Zivilisten durch internationale Kooperation Schutzräume eröffnet werden. 

Den Zivilisten auf Dauer die Lebensgrundlagen zu entziehen, Wasser und Nahrung, ist moralisch nicht zulässig. Ich würde mir daher wünschen, dass man mit Besonnenheit und langem Atem vorgeht. Es gab in den vergangenen Jahrzehnten in Israel immer Kräfte der Mäßigung, des Ausgleichs und der hohen moralischen Ansprüche an sich selbst. Im Moment scheinen mir aber die Kräfte zu überwiegen, die jetzt den gesamten Gazastreifen dem Erdboden gleichmachen wollen, um auf den Trümmern eine neue Ordnung zu errichten. Das ist die Stimmung, die ich persönlich in Israel mehrheitlich wahrnehme.

Es ist offensichtlich: Auf beiden Seiten sterben tausende Menschen. Gewalt provoziert neue Gewalt, im Nahen Osten droht ein Flächenbrand. Wie könnte das verhindert werden? Kann das verhindert werden?

Niemand hat eine Antwort auf diese Frage. Der Nahost-Konflikt ist wirklich extrem kompliziert. Man muss viele Jahrhunderte von Geschichte kennen, und zwar im Detail und in allen Graustufen, um ihn auch nur halbwegs zu verstehen. Es laufen viel zu viele Menschen herum, die hier feste Meinungen vor sich hertragen, ohne wirklich viel zu wissen. Alle müssen hier geistig abrüsten und intellektuell demütiger werden. Realpolitisch scheint mir aber ein Flächenbrand nur mit Hilfe einer Supermacht verhindert werden zu können, die denjenigen, die Öl ins Feuer gießen wollen, mit schwersten Konsequenzen drohen kann. 

Als Europäer müssen wir anerkennen, dass im Moment nur die Vereinigten Staaten von Amerika diese Rolle übernehmen können. Ich bin gerade in den USA und kann bestätigen, dass die Bereitschaft dazu groß ist. Ich schaue aber auch mit Sorge auf die nächste Wahl in den USA. Und: Vor 50 Jahren, beim Jom-Kippur-Krieg, flüsterte Golda Meir dem jungen Senator Joe Biden ins Ohr: „Keine Sorge, wir haben eine geheime Waffe … wir können nirgendwo sonst hin.“ Die geheimen Waffen sind aber auch die vermuteten bis zu 400 Atomsprengköpfe, mit denen Israel alle regionalen Gegner abschrecken kann.

Neben der Ukraine bricht ein weiterer Krieg aus. Das macht vielen Angst, sie erkennen die Welt nicht wieder – zusammen mit weltweiten Migrationsdramen, globalen Klimakatastrophen, dem Wanken sicher geglaubter politischer Systeme. Zeitenwende oder Apokalpyse? Wie damit umgehen?

Die Technologien, die durch die industriellen Revolutionen der Menschheit zur Verfügung stehen, führen dazu, dass die Drohung einer menschengemachten Apokalypse zum Normalzustand geworden ist. Vernichtung durch Atom- oder Biowaffen, irreversible Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, technologie-gestützte Superdiktaturen orwell’scher Prägung, Abschaffung des Menschlichen durch künstliche Intelligenz … all das gehört auf Dauer zu unserer Realität. Wir haben die Geister gerufen, die wir jetzt nicht mehr fest im Griff haben. Keiner weiß, ob das am Ende gut ausgehen wird. 

Eine Hoffnung wäre, dass sich die Weltreligionen hier zusammentäten, um eine Vision für eine friedvolle Zukunft der Menschheit zu entwickeln, die alle Kulturen umgreift. Davon sind wir aber leider weit entfernt. Wir erleben in diesen Tagen eindrücklich, dass die Religion benutzt wird, um Menschen zu Grausamkeit und Unmenschlichkeit zu motivieren, dass Religionen eher trennen als einen. Der christliche Umgang mit dieser trostlosen Situation ist ebenso eindeutig wie schwer: mehr Glaube, mehr Hoffnung und mehr Liebe.

Anzeige