Inés Niemöller-Hagedorn aus Mettingen saß in Quarantäne in Südafrika fest

Zum Helfen nach Kapstadt - und dann kam Corona

In Kapstadt wollte Inés Niemöller-Hagedorn aus Mettingen als Therapeutin Menschen in einer christlichen Beratungseinrichtung zur Seite stehen. Stattdessen saß sie drei Wochen in Südafrika fest - in Corona-Quarantäne.

Anzeige

Der Abflug am 6. März von Amsterdam verlief noch problemlos. Inés Niemöller-Hagedorn war gerade zum fünften Mal Großmutter geworden und nutzte die Zeit vor Reiseantritt, um ihr jüngstes Enkelkind in den Niederlanden zu besuchen. Dann ging es für die 62-Jährige los ins 13.000 Kilometer entfernte Kapstadt: „Ich war aufgeregt und frohen Mutes, denn das sollte die erste längere Auslandsreise werden, die ich allein antrat“, berichtet sie.

Mittlerweile sitzt Inés Niemöller-Hagedorn wieder entspannt im heimischen Garten in Mettingen. Die Sonne scheint auf die Sitzecke auf der Terrasse, die ins Wohnzimmer führt. Auf dem Tisch liegt Strickzeug: „Den pinken Pulli mache ich für mich“, sagt Inés Niemöller-Hagedorn mit einem Lächeln, das sie auch nach ihrer Drei-Wochen-Quarantäne in Kapstadt nicht verloren hat.

 

Aus drei Monaten Arbeit wurden drei Wochen Quarantäne

 

Inés Niemöller-HagedornInés Niemöller-Hagedorn aus Mettingen saß drei Wochen lang in der Quarantäne in Kapstadt fest. | Foto: Marie-Theres Himstedt

Die Trauma-Therapeutin hat eine längere Odyssee hinter sich. Drei Monate wollte sie in einer Therapieeinrichtung auf dem afrikanischen Kontinent hospitieren, doch dann kam Corona, und aus dem Wunsch wurde nichts: „Ich hatte geplant, dort in den Austausch zu gehen und zu lernen: Wie arbeiten deutsche - und wie arbeiten südafrikanische Trauma-Therapeuten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen?“ Niemöller-Hagedorn hat zehn Jahre in einer Praxis in der systemischen Familienberatung in Bergkamen gearbeitet. „Jetzt wollte ich mich unabhängig einem weiteren Spezialbereich zuwenden“, sagt die 62-Jährige.

Vermittelt wurde ihr die Stelle über Ulrike Diekmann. Die Psychologin gehört den Missionaren von Mariannhill an und ist nach langem Auslandseinsatz auch im Bistum Osnabrück tätig. Sie hält weiterhin Kontakt zum „Hope House“ in Kapstadt und hatte Inés Niemöller-Hagedorn diese Adresse genannt. Zu der christlichen Einrichtung gehören drei Beratungsstellen in der südafrikanischen Hauptstadt, in denen sich Menschen unabhängig von Kultur- oder Religionsangehörigkeit psychotherapeutisch behandeln lassen können.

 

In Kapstadt sind bis zu 30 Prozent alkoholkrank

 

„Wer depressiv ist, einen Trauerprozess zu bewältigen hat oder Opfer von häuslicher Gewalt und Missbrauch wurde, findet dort Hilfe“, fasst Niemöller-Hagedorn zusammen. Auf Spendenbasis bekommen so auch die Ärmsten der Armen einen Zugang zu einer Therapie. Ein Schwerpunkt ist auch die Suchtberatung: „Die Arbeit ist unheimlich wichtig. Bis zu 30 Prozent der Bevölkerung in Kapstadt sind alkohol-oder drogenabhängig“, berichtet Niemöller-Hagedorn.

Alkohol, so hat sie es beobachtet, ist in Kapstadt ein Alltagsgetränk. Umso größer waren die Auswirkungen auf die Bevölkerung, als Suchtmittel im Zug der Corona-Krise ab dem 16. März verboten wurden. „Das erste, was mit dem Corona-Lockdown in Kapstadt untersagt wurde, waren der Alkohol- und Zigarettenverkauf.“ Plünderungen und Schießereien in der von Touristen so beliebten Küstenstadt seien seit der Ausgangssperre an der Tagesordnung, wie internationale deutsche Tageszeitungen berichteten. Was kaum bekannt ist, auch um Touristen nicht abzuschrecken: In Kapstadt fallen jedes Jahr 2800 Menschen einem Gewaltverbrechen zum Opfer.

 

Von Plünderungen erfuhr sie übers Radio

 

Von den Plünderungen erfuhr Inés Niemöller-Hagedorn allerdings nur über das Radio in ihrem Gästehaus: „Ich war in einer sehr privilegierten Gegend untergebracht.“ Das Viertel „Tableview“ mit Blick auf den Tafelberg, das berühmte Wahrzeichen Südafrikas, wird hauptsächlich von wohlhabenden Weißen bewohnt: „Betreten verboten - Bei Zuwiderhandlung wird geschossen“, dieser Hinweis sei dort an den meisten Toren zu lesen gewesen sein, die Inés Niemöller-Hagedorn auf ihrem Weg zur ihrer Arbeit im „Hope House“ passierte. Als bedrohlich hat sie ihre Umgebung nie empfunden: „Tagsüber kann man sich auch als Frau überall sehr gut aufhalten, die Menschen sind freundlich und hilfsbereit“, schildert Inés Niemöller-Hagedorn ihre Erfahrung.

Die ersten drei Tage sollte sie in der Hauptzentrale des „Hope House“ die Abläufe kennenlernen: „Da habe ich dann auch mal einen Besen in die Hand genommen, oder gespült.“ Außerdem besuchte sie mit den angestellten Therapeuten und Psychologie-Studenten, die dort ihre Praxissemester ableisten, Vorträge zum Thema Alkoholismus.

 

Nach vier Kindern Start ins Studium

 

Die englische Sprache war kein Problem - sie ist gelernte Fremdsprachenkorrespondentin. Trotzdem bereitete sie sich auch sprachlich drei Monate auf ihren Afrika-Einsatz vor: „Ich habe nur noch englischsprachiges Fernsehen geschaut, viele Romane auf Englisch gelesen, natürlich auch Reiseführer“, schildert die unternehmungslustige Frau, die mit ihrer Tochter bereits zwei Rucksacktouren durch Lateinamerika unternommen hat. „Sprachen waren schon als Jugendliche meine Leidenschaft“, schildert Niemöller-Hagedorn.

 

„Los“ steht auf ihrem Tattoo am Unterarm

 

Inés Niemöller-Hagedorn hat sich das Wort "Los" auf den Arm tätowieren lassen"Ich bin ein neugieriger Mensch": Inés Niemöller-Hagedorn hat sich das Wort "Los" auf den Arm tätowieren lassen. | Foto: Marie-Theres Himstedt

Nach ihrer Ausbildung arbeitete sie drei Jahre als Übersetzerin für Spanisch und Englisch, bevor sie ihren Mann kennenlernte und mit ihm eine Familie gründete: „Ich bin ihm angeblich bei der Firmung meiner Schwester in Laggenbeck das erste Mal aufgefallen“, erinnert sie sich mit einem Lächeln. Damals spielte Karl-Heinz Hagedorn Gitarre im Gottesdienst. Aus anfänglichen Flirts über die Kirchbank wurde bald mehr, und die Familie ließ sich in Mettingen nieder.

Nach der Geburt ihrer vier Kinder konnte sie ihren gelernten Beruf nicht mehr ausüben. Teilzeitstellen waren damals nicht üblich in der Branche. „Ich war dann auf der Suche nach etwas, mit dem ich meine Interessen Menschen zu unterstützen und zu beraten, weiter entwickeln konnte“, sagt Inés Niemöller-Hagedorn. So begann sie 1992 das Studium Soziale Arbeit in Osnabrück mit einer Weiterbildung zur Familientherapeutin und Trauma-Therapeutin.

 

„Ich bin einfach ein neugieriger Mensch“

 

„Lebenslanges Lernen“ hat sich die fünffache Großmutter nicht ohne Grund auf die Fahnen geschrieben: „Ich bin einfach ein neugieriger Mensch.“ Fast wie ein Markenzeichen wirkt da das schlichte Tattoo, das sie sich vor vier Jahren auf den linken Unterarm stechen lies: „Los“ steht dort, daneben steigt ein kleiner Luftballon in die Luft.

Als Trauma-Therapeutin wollte sich Ines Niemöller-Hagedorn vor allem das zweite Projekt innerhalb des „Hope House ansehen. „Trauma-informed Classrooms“ bezeichnet ein Schulungskonzept für Lehrer, die Kinder aus den sogenannten „Townships“ unterrichten: „Diese Kinder sind durch Missbrauch, Vergewaltigung, häusliche Gewalt traumatisiert.“ Ihre Gastgeberin fuhr mit ihr an den kilometerlangen ärmlichen Siedlungen Richtung Zentrum: „Die Townships bestehen aus Verschlägen, zusammengezimmert aus Wellblech und Holz. Vereinzelt gibt es gemauerte Wände. Das Areal war entlang unserer Schnellstraße von Drahtzäunen gesäumt. Die Menschen, die dort leben, sind im wahrsten Sinne des Wortes abgeschnitten vom Wohlstand der Stadt,“ hat Inés Niemöller-Hagedorn beobachtet.

 

Mit dem Messer in der Hose zur Schule

 

„Man muss sich das vorstellen: Ein Junge aus diesen Townships muss Angst auf seinem Schulweg haben. Er trägt ein Messer in der Hosentasche, weil er das für seine Sicherheit braucht. Aber dann muss er in der Schule brav still sitzen und lernen.“ Für die Lehrer, die diese Kinder unterrichten, hat die Leiterin des „Hope House“ die Direktorin Judy Strickland ein Programm entwickelt, an dem die Trauma-Therapeutin aus Deutschland gerne mitgearbeitet hätte.

Aber nach einer Woche verdichteten sich die schlechten Nachrichten über die Ausbreitung des Covid-19-Virus. „Mein Mann rief mich an, ich möge bitte nach Hause kommen. Auch meine Kinder riefen mich an. Ich war eigentlich relativ entspannt, habe dann aber doch schweren Herzens einen Direktflug drei Tage später gebucht.“ Mittlerweile hatte ihr auch die Direktorin mitgeteilt, dass das „Hope-House“ auf absehbare Zeit geschlossen sein würde.

 

"Hast du genug Lebensmittel?"

 

„Ich bin also zum Flughafen, und dann der Schock: Der Flug war abgesagt worden.“ Mit Hilfe von zwei deutschen Studenten, die ebenfalls an dem Flughafen gestrandet waren, meldete sie sich noch vor Ort für das Rückholer-Programm der Bundesrepublik an. „Dann habe ich mir wieder eine afrikanische Handykarte besorgt und meine Gastgeberin Eileen angerufen. Zum Glück konnte ich mein Zimmer direkt wieder beziehen. Abends sagte Eileen zu mir: ,Inés, wir müssen uns hier auf eine Zeit zu viert einrichten. Hast du genug Lebensmittel?‘“

Die Regierung hatte Touristen verboten, überhaupt noch die Straße zu betreten, wenn sie jemanden hatten, der sie mitversorgen konnte. Mit Eileen, deren Freundin, die das Internet des Gästehauses für ihr Homeoffice nutze und Sonia, einem weiteren Gast, verbrachten die vier Frauen die nächsten drei Wochen isoliert in dem Gästehaus. „Wir haben zusammen Serien geschaut, natürlich mit selbstgemachtem Popcorn, gegrillt, uns nach deren Feierabend unterhalten, viel getanzt und Sport gemacht“, berichtet Inés Niemöller-Hagedorn.

In vielen Gesprächen konnte sie außerdem der Mitbewohnerin Sonia beistehen. Sie hatte im Herbst ganz plötzlich ihren Freund verloren und war dankbar über die Begleitung im Trauerprozess: „Es scheint so, als ob ich nur für diese Frau nach Kapstadt geflogen bin“, sagt Inés Niemöller-Hagedorn rückblickend. Auch wenn ihre persönliche Reise erst einmal ein Ende gefunden hat, und sie sich gerade nach einer neuen Stelle umsieht: „Eine Tasche von mir steht noch in Kapstadt. Ich komme wieder!“

Anzeige