Stefanie Tegeler, Flüchtlingsbeauftragte im Bistum Münster, über den politischen Rechtsruck

Bistums-Expertin: Pure Symbolpolitik in der Flüchtlingsdebatte

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Die Debatte über Flucht und Zuwanderung kocht wieder hoch: Die AfD bespielt das Thema und ist im Umfrage-Hoch, aus der CDU kommen unklare Töne, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) legt Verschärfungen des Abschieberechts vor. Stefanie Tegeler analysiert die Lage. Sie ist – in Nachfolge von Helmut Flötotto – von Bischof Felix Genn zur Flüchtlingsbeauftragen im Bistum Münster ernannt worden.

Frau Tegeler, die Debatte über Geflüchtete verschärft sich. Was passiert da gerade in unserer Gesellschaft?

Die Diskussion trifft in eine Zeit gesellschaftlicher Veränderungen und Unsicherheiten. Wir haben die Corona-Pandemie meiner Ansicht nach noch nicht aufgearbeitet. Dann erleben wir Krieg in Europa und seine Folgen: Die Inflation steigt; wir müssen plötzlich Gas und Strom sparen, obwohl wir uns daran gewöhnt hatten, dass beides immer verfügbar ist. Diese komplexen Problemlagen sorgen für Ängste und bringen Gewissheiten ins Wanken. Das betrifft alle Menschen, nicht nur die, deren Existenz unmittelbar bedroht ist.

Und deswegen heizt sich die Debatte über Geflüchtete auf?

Die AfD und andere Gruppen merken, dass das Thema verfängt. Zum Beispiel, wenn die Kommunen trotz der Wohnungsknappheit Unterkünfte für Geflüchtete einrichten müssen. Die Menschen suchen Antworten auf sehr komplexe Fragen. Die einfache Antwort der Rechtspopulisten lautet: „Schutzsuchende Menschen sind das Problem, viele Probleme wären gelöst, wenn wir keine Menschen von außerhalb aufnehmen würden.“ Es ist unzulässig, vorhandene strukturelle Probleme sofort mit Geflüchteten in Verbindung zu bringen und sie verantwortlich zu machen für die Komplexität gesellschaftlicher Herausforderungen. Aber: Für Rechtspopulisten sind Geflüchtete dankbare Sündenböcke, weil sie keinerlei Repräsentation und kaum eine Lobby haben.

Aber auch seriöse Parteien schlagen in die rechte Kerbe: Der Parlamentarische Geschäftsführer der Union im Bundestag, Thorsten Frei (CDU), hat das individuelle Grundrecht auf Asyl in Frage gestellt.

Diesem Vorschlag möchte ich am liebsten gar keinen Raum geben. Deutschland ist an die Genfer Flüchtlingskonvention und die Charta der Grundrechte gebunden. Daraus lässt sich ein Schutz für Geflüchtete ableiten. Der Vorstoß von Herrn Frei ist reine Symbolpolitik.

Wie bewerten Sie die Vorschläge von Ministerin Faeser? Zum Beispiel sollen die Höchstdauer des Ausreisegewahrsams für Ausreisepflichtige von zehn auf 28 Tage verlängert und die Gründe für eine Abschiebehaft ausgeweitet werden.


Stefanie Tegeler ist Flüchtlingsbeauftragte im Bistum Münster. | Foto: Juliane Büker (Caritas).

Eigentlich sollte das zweite Gesetzpaket zum Migrationsrecht im Herbst diskutiert werden. Die Ministerin ist aber SPD-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl in Hessen am 8. Oktober. Auch wenn sie ihre Vorschläge nun mit allen Beteiligten in Bund und Ländern erörtern will: Der Vorstoß war meines Wissens vorher nicht abgestimmt.

Was kann die Kirche zur Debatte beitragen?

Die Orientierung an der Menschenwürde jedes Einzelnen ist für die Caritas als Teil der Kirche handlungsleitend. Wir setzen uns anwaltschaftlich für Schutzsuchende, gegen Vorurteile und Exklusion ein. Deshalb weisen wir immer wieder auf Fakten hin. Angebote kirchlicher und caritativer Träger zur politischen Bildung können helfen.  Man muss immer wieder betonen, dass es Flucht-Ursachen gibt – also Push-Faktoren, die viel wichtiger sind als Pull-Faktoren, die angeblich Tausende nach Deutschland ziehen. Wer sein Heimatland verlässt, sieht keinen anderen Ausweg. Und da lockt sicher nicht die Aussicht, von 500 Euro Bürgergeld zu leben.

Was berichten Ihnen die Engagierten aus der Flüchtlingsarbeit im Bistum Münster?

Es ist gut, dass es in der Kirche einen Raum für Engagement und für den Austausch mit Geflüchteten gibt. Diese Arbeit wirkt gegen die Entsolidarisierung in einer Gesellschaft mit immer stärkeren Individualisierungstendenzen. Viele Menschen in der Arbeit mit geflüchteten Menschen und der Gemeindecaritas sind bereits seit 2015 aktiv, manche noch sehr viel länger. Das ist ungeheuer wertvoll. Zugleich fehlen Ehrenamtliche, weil sich viele eher situativ und zeitlich begrenzt engagieren. Zum Beispiel eben 2015 oder zu Beginn des Kriegs in der Ukraine. Das Engagement in diesem Bereich ist stark von der Unterstützung bei behördlichen Prozessen geprägt, etwa bei Antragstellungen. Jedoch sind im Entwurf des Bundeshaushalts für 2024 starke Einschnitte bei der Finanzierung sozialer Angebote vorgesehen, unter anderem 30 Prozent weniger Geld für die Migrationsberatung. Dabei ist diese nicht nur für Geflüchtete zuständig, sondern auch für zugewanderte Arbeitskräfte. Das passt nicht zu den Problemen, die gerade zu lösen sind.

Was wünschen Sie sich von der Politik?

Sie hat gute Ansätze auf den Weg gebracht, etwa das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und die erleichterte Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Aber es ist noch nicht gelungen, gesellschaftlich eine positive Einstellung zu Zuwanderung und Pluralität zu vermitteln. Da sehe ich die Politik und die Parteien, aber auch die Kirche gefordert.

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