Interview mit Bischof von Münster über Frauen, Homosexuelle, Missbrauch, Macht und Synodalen Weg

Bischof Genn im großen Sommerinterview zu aktuellen Kirchenthemen

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Derart fundamental in Frage gestellt war die katholische Kirche hierzulande noch nie: Rücktritte von Kardinälen werden diskutiert, ebenso der Umgang von Verantwortlichen mit Missbrauchsfällen, aber auch mit Frauen und Homosexuellen. Manche fürchten im Synodalen Weg eine Kirchenspaltung, andere vermissen klare Schritte zu Reformen. All diesen Themen stellt sich Münsters Bischof Felix Genn im großen „Kirche+Leben“-Sommerinterview.

Herr Bischof, vieles spricht dafür, dass in diesem Jahr so viele Menschen aus der Kirche austreten wie nie zuvor, weil sie das Gebaren der Kirche und ihrer Amtsträger abstoßend finden. Wie wütend sind Sie auf Ihren Kölner Bischofskollegen?

Wütend bin ich nicht. Mich macht die gesamte Situation traurig und auch ratlos. Der Grund für die vielen Austritte ist allerdings sicherlich nicht nur eine Person. Wut auf den Kardinal habe ich jedenfalls nie empfunden. Zweifellos befindet er sich in einer leidvollen Situation – aber die vielen Menschen in den Gemeinden und die vielen engagierten Christinnen und Christen ebenso. So nehme ich es wahr.

Wie persönlich nehmen Sie diese Entwicklung?

Ich bin Bischof von Münster, und es ist meine Verantwortung, dass ich mich den großen Herausforderungen stelle, die wir auch in unserem Bistum haben.

Aber auch in Münster sieht es nach Rekord-Austrittszahlen aus ...

Zweifellos. Daran sehen Sie, dass einzelne Situationen in deutschen Diözesen und in der Weltkirche auch die Entscheidung von Menschen im Bistum Münster beeinflussen – ja sogar über den katholischen Rahmen hinaus.

Inzwischen haben Sie mindestens zwei Anzeigen gegen Kardinal Woelki, die bei Ihnen eingegangen sind, nach Rom weitergeleitet. Nach der ersten Anzeige im Dezember ist nichts geschehen. Nimmt der Papst, nimmt der Vatikan, seine eigenen Regeln nicht ernst – und fühlen Sie sich übergangen?

Ich habe meine Pflicht erfüllt und die Anzeigen weitergegeben. Es ist zwar keine schriftliche Antwort ergangen, aber ich weiß, dass an den Fragen  gearbeitet wird. Ich bin ja auch Mitglied der Bischofskongregation und kann sagen: Dort wird äußerst zuverlässig gearbeitet. Darüber hinaus werde ich – das werden Sie bitte verstehen – im Interesse der betroffenen Personen nichts aus der Arbeit der Kongregation mitteilen.

Der Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx hat sein Rücktrittsgesuch an Papst Franziskus mit der Wahrnehmung einer „institutionellen Verantwortung“ begründet, doch der Papst hat abgelehnt. Wie bewerten Sie diesen Vorgang und dieses Motiv?

Bischof Felix Genn
"Ich sehe das Rücktrittsangebot von Kardinal Marx als eine Frucht tiefen, geistlichen Ringens": Münsters Bischof Felix Genn. | Foto: Michael Bönte

Ich sehe diesen Vorgang auch nach unserem gemeinsamen Gespräch mit Kardinal Marx im Ständigen Rat aller Diözesanbischöfe als eine höchst persönliche Entscheidung, als eine Frucht seines tiefen, geistlichen Ringens. Das kann ich nachvollziehen, wenn auch ich selber mir das in dieser Schärfe nicht zu Eigen machen kann. Auch die Antwort von Papst Franziskus ist, wenngleich sie natürlich politische Auswirkungen hat, vor allem auf der spirituellen Ebene zu verstehen. Das entspricht vollständig einem äußerst jesuitischen Vorgehen.

Bei Kardinal Marx stehen Erkenntnisse über seine Rolle im Umgang mit Missbrauch nicht nur im Erzbistum München-Freising, sondern auch zuvor von Ende 2001 bis 2007 im Bistum Trier noch aus – Ihrem Heimatbistum, in dem Sie von 1999 bis 2003 Weihbischof waren, bevor Sie Bischof von Essen wurden. Hier in Müns­ter sind Sie seit fast 13 Jahren Bischof. Können Sie für sich klar sagen: Ich bin mit mir und meinem Umgang mit Missbrauchsfällen im Reinen?

Ganz spontan kommt mir da ein Wort des Apostels Paulus aus dem Ersten Korintherbrief in den Sinn: „Ich bin mir zwar keiner Schuld bewusst, doch bin ich dadurch noch nicht gerecht gesprochen; der Herr ist es, der über mich urteilt“ (1 Kor 4,4). Ich habe mich intensiv mit diesen Fragen auseinander gesetzt und kann ehrlich sagen, dass ich dieses Zitat ganz und gar auf mich anwenden kann.

Im März hat der Vatikan erneut die Möglichkeit der Segnung homosexueller Paare verneint. Wie zu hören ist, hat diese Entscheidung die meisten deutschen Bischöfe wieder einmal völlig unvorbereitet erwischt – und bei vielen Katholikinnen und Katholiken für große Empörung gesorgt. Auch bei Ihnen?

Die Kommunikation war eindeutig schlecht. Sie als Journalisten haben das sicherlich vor mir erfahren. Ich habe im Vatikan deutlich gemacht, dass das nicht in Ordnung war und die Kommunikation dringend verbessert werden muss.

Viele Gemeinden haben danach Regenbogenfahnen als Zeichen des Protestes und der Solidarität an die Kirchtürme gehängt. Offenbar lehnen die meisten Katholikinnen und Katholiken die Position der Kirche zu Homosexualität ab, und viele homosexuelle Menschen sagen deutlich, wie sehr die Kirche sie verletzt hat. Zeit für eine Entschuldigung?

Dass sich homosexuelle Menschen verletzt fühlen, kann ich sehr gut verstehen. Ich glaube schon, dass die Kirche zu dieser Thematik etwas sagen sollte. Aber es stellt sich die Grundfrage, wie sie mit Menschen umgeht. Das gilt grundsätzlich, aber noch einmal besonders mit Blick auf homosexuelle Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte durch Äußerungen der Kirche verletzt wurden.

Bei der Familiensynode 2014 und 2015 im Vatikan wurde aus der deutschsprachigen Gruppe ein Text für das Synodendokument eingebracht. Darin wird vorgeschlagen, dass sich die Verantwortlichen der Kirche entschuldigen und sagen, dass der Umgang der Kirche mit homosexuellen Menschen und mit dem so intimen Bereich der Sexualität viele Menschen sehr verletzt hat. Dieser Text wurde nicht in das Abschlussdokument aufgenommen, er ist aber – soviel ich weiß – Thema beim Synodalen Weg. Ich würde mich freuen, wenn wir darüber sprechen könnten.

Was sagen Sie homosexuellen Menschen, die im pastoralen Dienst tätig sind und ihre Partnerschaften heimlich leben?

Ich versuche immer, gerecht mit solchen Situationen umzugehen. Ich plädiere dafür, offen mit den Wirklichkeiten umzugehen. Ich erwarte von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Ehrlichkeit. Und eine solche Ehrlichkeit wird niemandem schaden.

Sie sind durch Ihre Arbeit in der Bischofskongregation regelmäßig in Rom. Was erleben Sie dort mit Blick auf den Synodalen Weg: Ablehnung und Spaltungs-Vorwürfe oder Neugierde auf theologische neue Impulse?

Bischof Felix Genn.Erlebt Reaktionen im Vatikan auf den Synodalen Weg in "großer Differenziertheit": Bischof Felix Genn. | Foto: Michael Bönte

Ich erlebe eine große Differenziertheit. Das hat auch mit der unterschiedlichen Wahrnehmung der medialen Berichterstattung zu tun, wie das in Deutschland ja auch der Fall ist. Die einen lesen das, die anderen lesen jenes. Es gibt eine gewisse Skepsis einerseits, aber auch ein großes Vertrauen. Ich werde immer wieder auch in Rom danach gefragt, wie ich über den Synodalen Weg denke. Meine Antwort: Wir wollen katholisch bleiben. Wir wollen uns nicht aus der Weltkirche lösen. Aber wir wollen einen Raum eröffnen, in dem die wichtigen Fragen, die ja nun einmal da sind, in aller Offenheit besprochen werden können. Und das sollte synodal geschehen – also im gegenseitigen Hören sowohl auf die Fakten und die Emotionen, die sie auslösen, als auch auf die Fakten der kirchlichen Tradition und des weltkirchlichen Konsenses beziehungsweise Dissenses. Da schauen wir, wohin der Geist uns führt. Dafür erlebe ich eine große Sensibilität.

Viele auch in der Kirche können nicht nachvollziehen, dass Frauen keine Weihe empfangen dürfen. Sie sehen das als Diskriminierung, wie sie gesellschaftlich schlichtweg verboten ist. Was, wenn diese Stimmen im Volk Gottes Impulse des Heiligen Geistes sind?

Das ist eine durchaus zentrale Frage. In einer Gesellschaft, die so stark vom Gedanken der Gerechtigkeit und der Gleichberechtigung geprägt ist, kann ich verstehen, dass die kirchliche Lehre über den Ausschluss von Frauen vom Amt auf Widerstand stößt. Das führt dazu, dass auch die kirchliche Argumentation nicht mehr verstanden wird. Die Frage ist, wie das, was das Lehramt sagt, überhaupt noch vermittelt werden kann. Auch hier gehe ich ja davon aus, dass der Heilige Geist es geführt hat, auch wenn es sich über die Jahrhunderte immer wieder verändert hat. Diese Perspektiven miteinander in ein gutes Gespräch zu bringen, ist eine wahnsinnige Herausforderung.

Wenn man den Aspekt der Gerechtigkeit betrachtet, bin ich ganz und gar auf der Seite der Frauen und auch auf der Seite der homosexuellen Menschen. Es geht bei diesen Fragen nicht nur um Moral oder Dogmatik. Das habe ich übrigens auch an verschiedenen Stellen im Vatikan gesagt. Und doch bleibt die berechtigte Frage, ob es kirchlich über den Aspekt von Gerechtigkeit und Diskriminierung hinaus eine Ebene gibt, die verstehen lässt, warum die Kirche an diesem Punkt lehrt, was sie lehrt. Die Spannung ist übergroß, keine Frage.

Sie haben in der Chrisammesse dieses Jahres von einer „Identitätskrise“ der Priester gesprochen: Bilder von Kirche und Priester zerbrechen, der Zölibat wird in Frage gestellt, Missbrauch hat das Vertrauen in Priester erschüttert, Forderungen nach mehr Beteiligung von Laien und mehr Demokratie berühren auch die Frage der Autorität des Pfarrers, des Bischofs … Stehen Sie völlig ratlos vor dieser Entwicklung – oder haben Sie eine Ahnung, wohin die Reise gehen wird?

Ich bin weder ratlos, noch wüsste ich, wohin die Reise geht. Eines ist völlig klar: Wir alle, auch die Leserinnen und Leser von „Kirche+Leben“, kommen aus einer Gestalt von Kirche, die gerade zerbricht.  Das für sich zu realisieren, ist schwierig, weil immer sofort danach gefragt wird, wie die Kirche stattdessen aussehen soll. Wir sind in einen offenen Suchprozess gestellt, der schlichtweg alles betrifft: die Gestalt der Kirche, die Gestalt der Gemeinde und der Pfarrei, auch die Gestalt der kirchlichen Berufe. Das gilt nicht nur für die Priester, sondern auch für die Pas­toralreferentinnen und -referenten und für die Diakone. Da hilft es, gemeinsam zu suchen und nach einer Gestalt zu fragen – in aller Zuversicht, weil es bestimmte Grundwirklichkeiten gibt. Das sakramentale Amt etwa ist gesetzt, aber es muss doch nicht so gesetzt sein, wie es sich im 19. Jahrhundert dargestellt hat und vielen immer noch vertraut ist.

Es sind allerdings nicht nur die Gläubigen, die aus einer bestimmten Gestalt von Kirche kommen, sondern ebenso die Entscheidungsträger, die sich offenkundig mindestens so schwer mit Niedergang und Veränderungen tun ...

Bischof Felix Genn
"Sagen Sie es gerne direkt: Wir sind definitiv auch in einer Krise des Bischofsames!": Bischof Felix Genn. | Foto: Michael Bönte

Sagen Sie es gerne direkt: Wir sind definitiv auch in einer Krise des Bischofs­amtes! Völlig richtig. Wie die Priester sind auch wir Bischöfe fundamental in Frage gestellt. Darüber mache ich mir intensiv Gedanken: Wie gestaltest du in deiner Verantwortung als Bischof von Münster deinen Dienst? Ein kleines Beispiel: Als ich vor einigen Tagen mit jener Gruppe aus St. Stephanus hier in Münster zusammentraf, die gegen die Versetzung von Pfarrer Thomas Laufmöller protestierte, sagten sie mir wohl ein bisschen provokant: „Wir wollen doch auch Ihre Schäfchen sein!“ Da muss ich schlichtweg sagen: Ich habe keine Schäfchen! Und ich will auch keine Schäfchen! Weder Schäfchen noch Schafe. Ich habe Augustinus studiert, und er sagt: „Ich bin der Hirt der Herde Christi.“ Das frage ich jeden Kandidaten während der Priesterweihe: „Bist du bereit, unter der Führung des Heiligen Geistes die Herde Christi zu leiten?“ Das müssen wir lernen. Darum werden Sie von mir nie ein „Hirtenwort“ lesen, sondern immer ein „Bischofswort“. Sie werden von mir auch nie hören, dass ich von „meinem Bistum“ spreche. Ich sage immer: „Unser Bistum.“ Damit fängt es an.

In St. Stephanus in Münster und auch anderswo machen wir dieselben Erfahrungen: Eine bestimmte Kirchenstruktur, in der die Gemeinde sich total mit einem Priester identifiziert, sodass andere deshalb auch wegbleiben, zerbricht an der Notwendigkeit, dass wir Pfarrseelsorge heute und in Zukunft nur kooperativ gestalten können. Das führt zu Verletzungen bei diesen Menschen. Es führt aber auch zu Verletzungen, wenn diese Verletzten wiederum andere angreifen, die mir dann schreiben: Sie schauen nur auf die, die sich als Verletzte outen, uns aber haben Sie nicht im Blick. Ich sage ihnen allen: Ich sehe auch euch und eure Verletzungen.

St. Stephanus in Münster steht aber auch symptomatisch für die Frage vieler, warum eigentlich nur der Bischof entscheidet, wer wo Pfarrer wird.

Wenn Sie eine andere Lösung haben, sagen Sie es mir gern. Es gibt nämlich auch Gemeinden, denen ich sage: „Ich nehme euch euren Pastor weg“ – und die dann antworten: „Gott sei Dank!“ Personal­entscheidungen gehen für mich nicht ohne kollegiale Beratung.

Wenn man – ob als Priester oder Bischof – derart existenziell in Frage gestellt ist: Wie gehen Sie persönlich damit um?

Wenn ich mit Priestern zusammen bin, sage ich Ihnen: Es ist nicht so, dass ihr allein auf dem See seid und rudert, während ich mir am Ufer genüsslich einen Fisch brate und euch zurufe, wie ihr zu rudern habt. Ich sitze bei euch im Boot und rudere mit. Ich nehme innerlich Anteil an all dem, weil es mich umtreibt – und zwar in der Potenzierung, dass ich mit meinen Mitbrüdern im Bischofsamt Lösungen finden muss. Das zerreißt bisweilen. Von daher kann ich beim besten Willen nicht verstehen, dass es immer noch Menschen gibt, die nur zu gerne Bischof werden möchten.

Manche sagen, es bräuchte eine neue, weltkirchliche Vergewisserung darüber, was Kern des katholischen Glaubens ist – und was in den Weltreligionen unterschiedlich ausgestaltet sein kann. Etwa zum Zölibat, zur Frauenfrage, zur Sexualmoral. Bräuchte es ein Konzil angesichts der rasant sich ändernden Welt?

Es ist durchaus möglich, dass ein Papst, vielleicht auch schon Franziskus, zu der Überzeugung kommt, ein Konzil oder doch zumindest eine repräsentative Synode zusammenzurufen, weil es bestimmte Fragen gibt, die des weltkirchlichen Austauschs bedürfen. Aber es gibt auch einen Haken an Ihrer Frage, der mir durch meine Erfahrungen in der Bischofskongregation und der Bischofssynode in Rom sowie durch weltkirchliche Verbundenheiten immer klarer wird: Es gibt die Gefahr, dass wir Deutschen in der Weltkirche als die gesehen werden, die es scheinbar immer besser wissen als die anderen. Das schwingt oft mit. Ich warne sehr davor, diese Gemenge­lage im Blick auf unsere Nationalität und Mentalität zu unterschätzen. Wenn der Eindruck entstünde: Wir deutschen Katholiken wissen es schon und machen es schon mal, und ihr anderen werdet vielleicht auch irgendwann dahin kommen – das wäre fatal und ist hochgefährlich. Wir bleiben ein belastetes Volk mit einem belastenden Erbe.

Gleichwohl hat die Theologie aus Deutschland nach wie vor auch international einen hervorragenden Ruf …

Absolut, zweifellos. Sie hat einen guten Ruf und genießt hohes Ansehen. Das führt allerdings auch dazu, dass die ganze Stärke der romanischen Theologie etwa aus Frankreich und Italien kaum gesehen wird. Zudem baut der gute Ruf doch sehr stark auf Namen einer früheren Generation: Rahner, Ratzinger, Zenger, Kasper und viele andere mehr.

Was heißt das für uns in Deutschland?

Wir sollten unsere Hausaufgaben gut machen. Das heißt auch, in aller Demut zu sagen: Bei bestimmten Themen haben wir Fragen, die dürfen durchaus auch die Weltkirche beschäftigen. Und: Wir sollten hören, ob wir der Weltkirche nicht nur Fragen geben könnten, sondern ob es auch von dort theologisch qualifizierte Antworten gibt. So war es im letzten Konzil, so sollte es heute sein.

Im Herbst geht der Synodale Weg in eine neue Etappe, Papst Franziskus lässt in den Bistümern eine „Welt-Synode“ beginnen, und das Bistum Münster will in einen neuen „Prozess zur Entwicklung der pastoralen Strukturen“ starten. Ganz schön viel – was wird das alles bringen?

Es ist in der Tat eine ganze Menge. Unsere Aufgabe als Bischöfe ist es, diese Prozesse gut miteinander zu verknüpfen, damit wir uns nicht überheben. Das gilt auch für uns im Bistum Münster. Auf jeden Fall ist es großartig, dass Franziskus das, was wir „Synodaler Weg“ nennen, für die ganze Welt weitet und einen ganz offenen Raum eröffnet. Und was bringt das? Es bringt einen großen Prozess, in dem wir alle  lernen können, was es heißt, synodale Kirche zu sein – und nicht nur von hierarchischen und päpstlichen Strukturen her zu denken. Das müssen wir wirklich lernen!

Der Corona-Lockdown scheint sich zunehmend seinem Ende zuzuneigen …

Hoffentlich!

Was haben Sie als Bischof am eindringlichsten aus der Corona-Pandemie gelernt?

Bischof Felix Genn.Begeistert über Kreativität in den Gemeinden während der Corona-Pandemie: Bischof Felix Genn. | Foto: Michael Bönte

Zum Beispiel, dass trotz einer depressiven Stimmung so unglaublich viel Kreativität geweckt wurde. Das ist großartig! Darüber berichten Sie in „Kirche+Leben“ ja immer wieder. Das ist für mich auch ein Zeichen dafür, dass wir keine sterbende Kirche sind. Ich habe auch gelernt, dass die Botschaft des Evangeliums, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, weit über die Kirche hinaus fruchtbar ist. Denn viele, die sich über die Maßen engagiert haben – Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte etwa –, sind gar keine Christinnen oder Christen. Sie leben und verwirklichen dennoch die Botschaft der Nächstenliebe, das ist eine Frucht des Evangeliums. Ich sage das ohne jede Ambition, uns dieses Engagement als unser Verdienst zu Eigen zu machen.

Zudem habe ich gelernt, wie zerbrechlich, wie gebrechlich wir sind. Wie wir an Grenzen kommen. Trotz eines großen wissenschaftlichen Fortschritts bemächtigt sich ein kleines Virus derart unser, dass es die ganze Welt beherrscht. Und schließlich frage ich mich selbstkritisch: Habe ich, der ich gesund geblieben bin, genug diejenigen im Blick behalten, die genau das Gegenteil erfahren haben?

Im Blick auf die nächsten Jahre im Bistum Münster: Was bereitet Ihnen Sorge?

Am meisten bereitet mir Sorge, dass wir zu wenig bedenken, dass der Herr die Kirche führt. Stattdessen gibt es etwa bei den Befürwortern wie bei den Gegnern des Synodalen Wegs jene, die ganz genau zu wissen glauben, wie die Kirche von Morgen aussieht. Und es gibt jene, die sagen: Wir kriegen das hin, wir müssen einfach nur machen. Zu denken, alles zu wissen und machen zu können – das sind die Fallen! Aber das ist kein kirchliches Denken. Es gibt einen Anderen, der sich unser bedient als Zeugen, als Werkzeuge – und wir lassen uns von ihm führen. Es gibt einen Primat der Gnade und nicht den Primat des Machens.  

Wenn Sie sagen: Wir müssen uns von Christus führen lassen – vielleicht führt er uns ja gerade in diese Fragen, die viele engagierte Christinnen und Christen nicht nur in Deutschland so umtreiben …

Ja, und vielleicht werde ich geführt, indem ich mich diesen Fragen stelle. Ich würde nie sagen, dass Menschen, die vielleicht andere Positionen vertreten als ich, sich nicht von Christus führen ließen. Nein! Mir geht es immer darum, auch die Meinung des anderen zu retten. Dabei müssen wir auch kritisch hinterfragen, dass wir immer zu Ergebnissen kommen möchten. In einem geistlichen Prozess gibt es aber keine Ergebnisse, sondern immer nur eine Frucht.

Was ist der Unterschied?

Ergebnisse werden gemacht, die Frucht wächst.

Was macht Ihnen trotz und in alldem Hoffnung?

Ich bin nur Werkzeug.

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