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Eine weitere Betroffene sexualisierter Gewalt verklagt das Erzbistum Köln auf ein hohes Schmerzensgeld. Die Pflegetochter Melanie F. des inzwischen aus dem Klerikerstand entlassenen Priesters U. fordert eine Entschädigung von 830.000 Euro, bestätigte ein Sprecher des Landgerichts Köln der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) entsprechende Medienberichte.
Beim Erzbistum Köln sei die Klageschrift bisher nicht eingegangen, hieß es von dort. Der WDR meldet, die Frau mache weitere 20.000 Euro für künftige Kosten, etwa Therapien, geltend.
Im Juni hatte das Landgericht Köln entschieden, das Erzbistum solle dem missbrauchten früheren Messdiener Georg Menne die bislang höchste Schmerzensgeldsumme von 300.000 Euro zahlen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Menne hatte 725.000 Euro plus 80.000 Euro für mögliche künftige Schäden gefordert. Im System der kirchlichen Zahlungen in Anerkennung des Leids erhielt er 25.000 Euro.
Zwei Schwangerschaften wurden beendet
U. war 2022 wegen mehrfachen Missbrauchs zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden. Er habe die heute 56-Jährige in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren vielfach aufs Schwerste missbraucht, berichten der "Kölner Stadt-Anzeiger" und der WDR.
Eine ihr nach eigenen Worten nicht bewusste Schwangerschaft sei durch einen gynäkologischen Eingriff beendet worden, dessen Ziel U. und der Frauenarzt ihr verheimlicht hätten. Bei der zweiten Schwangerschaft habe sie sich selbst für einen Abbruch entschieden. In Anerkennung ihres Leids habe sie bisher von der Kirche 70.000 Euro bekommen, so der WDR.
Anwalt: Verjährung greuft möglicherweise nicht
Der Bonner Anwalt Eberhard Luetjohann, der für Menne tätig ist, vertritt auch die Pflegetochter. Im "Stadt-Anzeiger" bekundete er die Erwartung, das Erzbistum verzichte wie bei Menne auch in diesem Fall auf die Einrede der Verjährung. Sonst wäre "der Marianengraben der Unmoral erreicht".
Der "Zeit"-Beilage "Christ und Welt" sagte er, ein Gericht könne feststellen, dass die Kirche rechtsmissbräuchlich gehandelt habe und die Verjährung gar nicht greife. Rechtsmissbrauch liege vor, wenn ein Beklagter aktiv Dinge getan habe, um einen Schmerzensgeldanspruch zu vereiteln. "Tatsächlich hat die Kirche all die Jahre Akten in ihren Giftschränken verschwinden lassen. Sie haben den Opfern sogar mit der Hölle gedroht", so Luetjohann.
Anwalt: Wir sind mit weiteren Fällen befasst
Der Anwalt teilte mit, dass er und seine Kollegen Stephan Jäger und Hans-Walter Wegmann mit weiteren Fällen befasst seien – vornehmlich aus dem Erzbistum Köln, aber auch aus den Bistümern Essen und Trier. Es hätten sich rund 250 Menschen gemeldet, die wegen Missbrauchs durch Priester juristische Unterstützung suchten. Eigentlich wollten sie aber nicht vor Gericht ziehen.
„Es wäre gut, wenn die einzelnen Bischöfe sich noch dieses Jahr mit den Betroffenen und uns an einen Tisch setzen“, so Luetjohann. Andernfalls drohte er an: „Dann zwingen wir die Bischöfe eben in die Knie.“ Dem Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki warf er vor, er habe nach dem Urteil gegen U. überhaupt nicht auf sein Angebot reagiert, sich außergerichtlich zu einigen.
Modellrechnung im Milliarden-Euro-Bereich
Unter Berufung auf amerikanische Fachleute, die ihren Computer für eine Modellrechnung mit Daten über Missbrauchsfälle in Deutschland gefüttert hätten, sagte Luetjohann: „Wenn die Kirche einen Strich machen würde, müsste sie 2,5 bis 2,7 Milliarden Euro an Schmerzensgeld aufwenden.“
Wenn die Bischöfe auf Verjährung pochten, könnte der Verlust laut Modellrechnung auf bis zu 25 Milliarden Euro steigen: „Die Kirchensteuern würden noch mehr einbrechen, es gäbe weniger Spenden und Erbschaften. Immer weniger Firmen und Banken würden mit der Kirche Geschäfte machen wollen“, prognostizierte der Anwalt. „Die Kirche kann nicht bankrottgehen, aber sie kann sich moralisch ruinieren.“
Schüller: Klage hat gute Erfolgsaussichten
Der Kirchenrechtler Thomas Schüller von der Universität Münster räumt der Klage hohe Erfolgsaussichten ein. "Die Vergehen und die kirchlichen Versäumnisse sind gut dokumentiert", sagte er dem "Stadt-Anzeiger".
Katholischen Bistümern und evangelischen Landeskirchen stehe "eine Klagewelle" bevor, weil sich immer mehr Betroffene ermutigt sähen, vor staatliche Gerichte zu ziehen. Wenn sich die Rechtsprechung des Landgerichts Köln verstetige und Betroffene künftig hohe sechsstellige Summen zugesprochen bekämen, "droht finanzschwachen Bistümern bald die Insolvenz".
Update 15.15 Uhr: Bestätigung Landgericht, Aussagen Klägerinnen-Anwalt, Text wesentlich erweitert